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Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

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For tschritt <strong>Europa</strong> ?<br />

rum Menschen, die einer vergangenen Zeit<br />

angehören, die ihrer erziehung und ihrer<br />

Mentalität nach Bürger der stalinistischen<br />

sowjetunion sind. es sind nicht viele, aber<br />

ihre aggressive existenz lässt die Vergangenheit<br />

nicht ruhen.<br />

Man macht es sich zu leicht, wenn man<br />

glaubt, das sei ein nationales problem.<br />

letztendlich haben wir doch alle dasselbe<br />

purgatorium durchlitten, in dem uns die<br />

europäischen Grundlagen ausgetrieben werden<br />

sollten, und mehr oder weniger hat die<br />

50-jährige sowjetzeit uns allen ihren stempel<br />

aufgedrückt. Der Führerkultus und die<br />

aufgabe der westlichen Demokratie führten<br />

dazu, dass neben dem Großen Führer auch<br />

all jene an die Macht kamen, die im system<br />

eine position hatten.<br />

Sowjetische Nostalgien<br />

Jeder klammerte sich an seinen posten,<br />

und über ihre Macht freuten sich Forscher,<br />

hauswart und institutsdirektor gleichermaßen.<br />

Wer nicht in diesem system gelebt hat,<br />

weiß nicht, was Machtgier ist. Die Nostalgie,<br />

die einige ältere Menschen verspüren,<br />

wenn sie an diese Zeit zurückdenken, erhellt<br />

einen nur allzu menschlichen tatbestand –<br />

die Jugend scheint, jedenfalls einigen Menschen,<br />

die beste Zeit des lebens gewesen<br />

zu sein, und angesichts der globalen Wirtschaftskrise<br />

hört man stimmen, die das auseinanderbrechen<br />

der sowjetunion sogar <strong>für</strong><br />

ein tragisches ereignis halten.<br />

unsere frühere parole „seien wir esten,<br />

aber werden wir auch europäer!” ist daher<br />

wohl gerade jetzt von größerer Bedeutung als<br />

jemals zuvor. eingedenk der „Bronzenacht”<br />

vor zwei Jahren (als die proteste gegen die<br />

umsetzung eines Mahnmals zur erinnerung<br />

an den Zweiten Weltkrieg und gegen<br />

die umbettung der Gebeine von soldaten<br />

196<br />

auf den Kriegsfriedhof zu plünderzügen in<br />

der innenstadt tallinns führten), würde ich<br />

die parole jetzt neu formulieren: „seien wir<br />

esten, werden wir estländer, aber seien wir<br />

alle zusammen auch europäer!”<br />

Für mich, die werdende schriftstellerin,<br />

waren Jugend und ausbildung in diesem<br />

kleinen Flecken land am ufer des Finnischen<br />

Meerbusens gerade deshalb durchdrungen<br />

von einer existenziellen spannung<br />

und Komplexität, als unsichtbar und sichtbar<br />

der von soldaten bewachte stacheldrahtzaun<br />

immer vor augen war.<br />

schriftsteller lernten unter der Zensur<br />

„zwischen den Zeilen” zu schreiben, und<br />

die leser kauften mit einer davor nicht bekannten<br />

leidenschaft Bücher (so konnte<br />

sich die erstauflage eines Gedichtbandes<br />

auf viertausend, eines romans auf ganze<br />

zwanzigtausend stück belaufen), um den<br />

allgemeinverständlich zwischen den Zeilen<br />

verborgenen Geheimcode zu knacken, der<br />

von den Zensoren übersehen worden war.<br />

selbst in Gedichten <strong>für</strong> Kinder entschlüsselte<br />

das kollektive estnische Bewusstsein<br />

verbotene Nachrichten, die von den Dichtern,<br />

wie sie später bekannt gaben, freilich<br />

niemals intendiert worden waren.<br />

und inmitten all dieser staatlichen Verbote<br />

und Bedrängungen gab es Zeiten, in<br />

denen mich das Bild, das sich mir auftat,<br />

wenn ich mit der Verhärmtheit eines Gefangenen<br />

nach europa blickte, erschütterte.<br />

ich gestehe, ich hätte mir gewünscht, die<br />

europäische geistige elite wäre hellsichtiger<br />

und klüger gewesen; hätte mir gewünscht,<br />

dass ein teil der bedeutendsten europäischen<br />

intellektuellen sich bei der Wahl ihrer<br />

Weltanschauung nicht derart von den<br />

verbalen Vortäuschungen dieses tönernen<br />

Kolosses hätte blenden lassen.<br />

ich verstand zutiefst den hier offenbar<br />

werdenden, andauernden Kampf begabter

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