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Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

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en offensichtlich von dem Gedanken fasziniert,<br />

ihr land durch die augen eines ausländers<br />

zu sehen. sie, die Bewohner einer kleinen<br />

und bescheidenen Nation, waren verblüfft,<br />

dass überhaupt jemand über sie schreiben<br />

wollte, und ich war im Gegenzug von ihrer<br />

Bescheidenheit überrascht, wenn man bedenkt,<br />

dass estland eines der ältesten und<br />

stolzesten Mitglieder europas ist, dem man<br />

historisch sehr mitgespielt hat. auf diese Weise<br />

lernte ich sehr viel durch diesen roman<br />

– weniger während des schreibens selbst als<br />

durch die interkulturellen Nachwirkungen.<br />

Niemand kann abstreiten, dass uns wahrscheinlich<br />

nur ein fragiler Konsens der eu<br />

von den alten albträumen trennt, wenn man<br />

bedenkt, dass ihre reißfestigkeit wohl nur aus<br />

der schieren Zahl und Komplexität der einzelnen<br />

Fäden resultiert, die in der Gemeinschaft<br />

zusammenlaufen.<br />

aber es sind auch genau jene alten albträume,<br />

die uns als europäer definieren: teil<br />

unseres gemeinsamen erbes, unserer schuld.<br />

europa kontrolliert seine Grenzen zwar nicht<br />

mehr im herkömmlichen sinn auf Zölle und<br />

abgaben, aber die Grenzen existieren nach<br />

wie vor. Für die literatur können sprachgrenzen<br />

schlicht unüberwindbar sein. Versuchen<br />

sie einmal, in einem griechischen Buchladen<br />

zwischen den Büchern des amerikaners Dan<br />

Brown und der Britin J. K. rowling einen estnischen<br />

roman zu finden oder umgekehrt.<br />

eine Nation wird jedoch nicht nur dadurch<br />

definiert, wie sie sich selbst wahrnimmt, sondern<br />

auch dadurch, wie sie von außen wahrgenommen<br />

wird und wie sie andere sieht.<br />

Daher wäre mein Vorschlag <strong>für</strong> die wahrhafte<br />

rolle europäischer literatur innerhalb<br />

europas (ganz zu schweigen von ihrer rolle<br />

außerhalb einer europäischen union) unterschiede<br />

zu beleuchten statt Gleichmacherei<br />

zu fördern – während sie auf der tiefgründigsten<br />

ebene zeigt, dass wir alle letztendlich<br />

<strong>Europa</strong> <strong>liest</strong><br />

menschliche Wesen mit ähnlichen Neurosen,<br />

Wünschen und sorgen sind.<br />

Wenn auch die derzeitige politische und<br />

bürokratische einheit <strong>für</strong> das tiefere schriftstellerempfinden<br />

eines „europäischen seins“<br />

nicht relevant ist, könnte dasselbe einigende<br />

Gebilde mehr da<strong>für</strong> tun, eine wahrhaft europäische<br />

literatur zu unterstützen, ohne<br />

die se zu einem exklusiven club zu machen.<br />

ich traf kürzlich eine eu-Übersetzerin, die<br />

von sinnlosen, einschläfernden einzelheiten<br />

endloser Vorträge, Memoranden und Berichten<br />

zur Verzweiflung getrieben wurde,<br />

<strong>für</strong> deren Übersetzung vom englischen ins<br />

Französische sie bezahlt wurde: Wenn nur ein<br />

Bruchteil der ungeheuren summen, die der<br />

eu zur Verfügung stehen, der literatur in<br />

Form großzügiger subventionen <strong>für</strong> publikationen<br />

und stipendien <strong>für</strong> Übersetzungen in<br />

akzeptabler höhe zuteilwürde, anstatt immer<br />

neue preise ins leben zu rufen, die es bereits<br />

in hülle und Fülle gibt, hätte jener estnische<br />

roman eine größere chance, in einem griechischen,<br />

slowakischen, belgischen (oder sogar<br />

einem britischen) Buchladen aufzutauchen,<br />

und unterschiedlichkeit würde als teil<br />

eines gemeinsamen abenteuers zelebriert.<br />

Aus dem Englischen von Angelika Welt<br />

Adam Thorpe, 1956 in Paris geboren, ist Dichter,<br />

Schriftsteller und Dramatiker. Er wuchs in Indien,<br />

Kamerun und England auf und lebt in Frankreich.<br />

Nach seinem Studienabschluss in Oxford 1979<br />

gründete er ein Tourneetheater und tourte damit<br />

durch Dörfer und Schulen. Er gewann zahlreiche<br />

Preise und Auszeichnungen. Seine letzten Veröffentlichungen:<br />

die Kurzgeschichten „Is this the<br />

Way You Said“ (2006), die Gedichtsammlung „Birds<br />

with a Broken Wing“ (2007) sowie die Romane<br />

„The Standing Pool“ (2008) und „Hodd“ (2009).<br />

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