Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit
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kommunistischen) Volkes? Weil sich seine<br />
haltung gegenüber der literatur verändert<br />
hat? Nein, wegen des Gesetzes von künstlerischem<br />
angebot und Nachfrage. Der europäische<br />
literaturmarkt kann nämlich den<br />
ansturm von fünfzig litauischen schriftstellern<br />
nicht verkraften (das gilt auch <strong>für</strong> den<br />
litauischen, der nicht mehr als zwei holländische<br />
schriftsteller verkraften kann), und<br />
deshalb sind nur einer oder zwei willkommen.<br />
Diese beiden auserwählten gelten als<br />
„repräsentanten“ der litauischen literatur.<br />
so ist unser ostler (aber auch der Westler)<br />
sowohl eine europäisch orientierte „seele“,<br />
die sich nach affirmation auf dem europäischen<br />
Markt sehnt, als auch eine „globalistische“<br />
seele, die ihre europäische affirmation<br />
schon morgen <strong>für</strong> die profitablere<br />
amerikanische verkaufen würde. Das hinausspazieren<br />
aus dem paradies der Nationalliteraturen,<br />
wo der schriftsteller noch<br />
immer als „repräsentant“ und Wortkünstler<br />
behandelt wird, schließt die Zustimmung<br />
zur Demokratie des Marktes ein.<br />
schriftstellern aus der slowakei oder aus<br />
slowenien, die bisher von kurzsichtigen Kollegen<br />
mit schwergewichtigen hinterteilen<br />
umgeben waren, steht also die Konfrontation<br />
mit dem Markt bevor. auf diesem Markt<br />
erwartet sie unter anderem David Beckham,<br />
der vor einiger Zeit den British Book award<br />
erhielt, denn das mit seinem Namenszug<br />
versehene Buch hat der Buchindustrie einen<br />
haufen Geld gebracht. Daher wird unser<br />
este, vorausgesetzt, er ist ein Marktoptimist,<br />
von nun an in sein literarisches leben auch<br />
in den neu dazugekommenen<br />
osteuropäischen ländern ist der<br />
schriftsteller noch immer als<br />
„seele“ des Volkes brauchbar.<br />
For tschritt <strong>Europa</strong> ?<br />
regelmäßige Besuche eines Fitnessstudios<br />
einplanen müssen. Denn die Konkurrenz<br />
ist stark, ungleich und entmutigend. um<br />
ehrlich zu sein, eine Verzögerung der Konfrontation<br />
mit dem brutalen Markt wird wenigstens<br />
während der transition durch die<br />
europäische Kulturbürokratie ermöglicht,<br />
die noch immer den austausch nationalliterarischer<br />
identitäten achtet und stimuliert.<br />
Da<strong>für</strong> kassiert sie das eine oder andere prozent,<br />
gerade so wie jeder agent. Doch auch<br />
die leser sind hier nicht unschuldig um<br />
sich auf die schnelle zu informieren, lesen<br />
sie sogar etwas estnisches.<br />
Was ist mit jenen, die keine nationale<br />
identität haben? Mit der kosmopolitischen,<br />
proletarischen, intellektuellen Bagage, mit<br />
den Verfechtern einer europäischen identität,<br />
eines europäischen schmelztiegels,<br />
der die staatsgrenzen, die nationalen und<br />
die ethnischen teilungen auslöschen und<br />
durch einen europäischen pass und den status<br />
eines europäischen Bürgers regulieren<br />
möchte? solche leute werden zwangsläufig<br />
ausharren müssen. solche leute können<br />
ihre utopistische hoffnung einzig in<br />
die Mobilität des Großkapitals setzen, so<br />
paradox das auch klingen mag. in Zukunft<br />
könnte nämlich anstatt Volk und staat irgend<br />
so eine mächtige Korporation als neuer<br />
identitätsstifter auftreten, und in diesem<br />
Fall könnte es passieren, dass die logik des<br />
Geldes einfach so staatsgrenzen und identitäten<br />
wegwischt. sollte das geschehen,<br />
wird serbien ikea heißen, seine einwohner<br />
ikeaner, slowenien siemens, mit siemensianern<br />
als einwohner. und man sieht den politischen<br />
Führer eines kleinen europäischen<br />
landes schon vor sich, der seinem Volk die<br />
Botschaft schickt: „Wenn ihr euch nicht benehmt,<br />
verkaufe ich euch an Bill Gates.“<br />
und auch das leben selbst scheint unauffällig<br />
in diese richtung zu gehen. Mit<br />
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