Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit
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For tschritt <strong>Europa</strong> ?<br />
und „der Kommunismus die Kunst politisierte“.<br />
europa hat verschiedene ästhetische<br />
Kanons, künstlerische Konzepte und perioden<br />
erlebt – lange perioden der elitären<br />
hochkultur und danach auch die Zeit der<br />
„mechanischen reproduktion“ und entauratisierung<br />
der Kunst –, um sich schließlich<br />
in einer totalen auflösung der Konzepte zu<br />
befinden, aber auch in einer starken auflösungsdynamik,<br />
in der sich die Demokratisierung<br />
der Kunst und die herrschaft des<br />
Marktes, die starke Dominanz der Massenkultur,<br />
die teils eine amerikanische ist, und<br />
damit im Zusammenhang auch die Geopolitisierung<br />
der Kultur, schließlich auch die<br />
reste traditionalistischer Kulturkonzepte<br />
und deren politisierung miteinander vermengen.<br />
in diesem prozess hat europa, das<br />
als entscheidenden ideologischen Kit gerade<br />
die Kultur nutzt, Bedarf, diese seine Kultur<br />
zu reartikulieren und zu redefinieren.<br />
Bezahlte <strong>Europa</strong>enthusiasten<br />
auf den ersten Blick scheint es keinerlei<br />
sorge zu geben. ein kurzer Bummel<br />
durch das internet wird zeigen, dass europa<br />
heute mit einem umfangreichen Netz<br />
von hunderten von highways, autobahnen<br />
und straßen, hunderten Fons und Foundations,<br />
schirmorganisationen, NGos, Networks,<br />
Kulturservices und virtuellen Büros<br />
überzogen ist, deren einzige aufgabe darin<br />
besteht, einen ungehinderten Kulturtransfer<br />
zu ermöglichen. im Bereich service und<br />
absicherung dieses Kulturverkehrs und der<br />
kulturellen Kooperation arbeiten zahlreiche<br />
Kulturmanager, „offiziere“, „advokaten“<br />
der Kultur sowie Kulturmittler. Diese leute<br />
sind bezahlte europaenthusiasten, Nationalisten,<br />
postnationalisten und internationalisten,<br />
Kosmopoliten und Globalisten,<br />
europäische und regionale Nationalisten,<br />
156<br />
Verfechter europäischer Besonderheiten<br />
und Differenzen, aber auch der europäischen<br />
Vereinigung, professionelle mit<br />
Mehrfachidentitäten, Menschen mit mehreren<br />
häuptern auf einem Körper. innerhalb<br />
dieser Dynamik – im reichhaltigen Netz<br />
der europäischen Kulturbürokraten und der<br />
noch nicht vernetzten unmittelbaren Kulturproduzenten<br />
– spielt sich das derzeitige<br />
und künftige europäische Kulturleben ab.<br />
obwohl die literatur längst ihre dominante<br />
stellung eingebüßt und diese attraktiveren<br />
und repräsentativeren Medien überlassen<br />
hat, entwickelt sich auch ihr leben<br />
mit genau dieser Dynamik. auch der europäische<br />
Gegenwartsautor, besonders der aus<br />
dem osten, ist ein produkt dieser konfusen<br />
kulturellen Dynamik. er ist ein Körper mit<br />
mehreren häuptern, er ist bemüht, sich im<br />
einklang mit den Veränderungen zu positionieren.<br />
er versucht diskret, die traditionelle<br />
„seele seines Volkes“ beizubehalten.<br />
in den westeuropäischen ländern ist diese<br />
schriftstellerische Funktion längst entpolitisiert<br />
worden, aber insgeheim hält sie sich<br />
noch wie eine sinekure. in den neu dazugekommenen<br />
osteuropäischen ländern, denen<br />
es bisher nicht gelungen ist, sich von ihrem<br />
„befreienden“ Nationalismus zu lösen, ist<br />
der schriftsteller noch immer als „seele des<br />
Volkes“ brauchbar. Das Modell hat also seine<br />
anziehungskraft nicht eingebüßt. Denn<br />
die „seele“ des einen Volkes kommuniziert<br />
am einfachsten mit der „seele“ eines andern<br />
Volkes. Die Kommunikation einer „seele“<br />
ohne Grenze und ohne ständige adresse gestaltet<br />
sich schon schwieriger, nicht wahr?<br />
unter den einstigen Bedingungen schlug es<br />
unser litauer oder slowene, der die autonomie<br />
der „literarischen Kunst“ verteidigte,<br />
gar aus, ein repräsentant seines (kommunistischen)<br />
Volkes zu sein. heute ist er wieder<br />
bereit, einer zu sein. Wegen seines (post