Europa liest - Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit
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dert, mussten zumindest im Westen europas<br />
philosophie und literatur die hauptlast<br />
der bürgerlichen emanzipation überhaupt<br />
tragen. Dennoch wächst die Bedeutung des<br />
Marktes auch <strong>für</strong> den Kritiker.<br />
Diese ökonomische orientierung am<br />
Markt führt zu einer Diffusion des gesamten<br />
Feldes der Kritik. in diesem Fall haben<br />
wir es mit einem Kritiker zu tun, der über<br />
die standards der literaturkritik durchaus<br />
verfügt, sich aber immer stärker leiten lässt<br />
vom erwarteten erfolg eines Buches. er kennt<br />
die Kalkulationen der Buchverlage, weiß bei<br />
übersetzten Büchern um deren erfolge in anderen<br />
ländern. er bringt in erfahrung, wie<br />
hoch die Vorschüsse der literaturagenten und<br />
Verleger waren, und er schließt daraus, welche<br />
anstrengungen der Verlag unternehmen<br />
wird, das Buch auf dem Markt zu platzieren<br />
und durchzusetzen. sicher wird er keine Zuwendungen<br />
vom Verlag erhalten und er wird<br />
auch nicht darauf spekulieren, aber er lässt<br />
sich mittragen von einer Welle des Bucherfolgs,<br />
die ja auch bedeutet, dass eine Vielzahl<br />
von Menschen eben jene urteile und euphorischen<br />
Gefühle, jene erkenntnisse oder lebensklugheiten,<br />
die der Kritiker herausgearbeitet<br />
hat, teilen.<br />
Die helden des Marktes, die autoren, und<br />
die helden ihrer romane sind auch die des<br />
Kritikers, sie sind es <strong>für</strong> ihn schon ein wenig<br />
früher als <strong>für</strong> andere. Ja, hat er an ihrer<br />
popularität nicht mitgearbeitet und gehört<br />
ihm nicht ein wenig von jenem kollektiven<br />
seelischen aufschwung, den ein anspruchsvoller<br />
und unterhaltsamer Bestseller auslöst?<br />
und ist er nicht tatsächlich näher an den<br />
Menschen als seine bitter tüftelnden Kollegen?<br />
hat er nicht mehr verstanden, wenn<br />
schon nicht vom Kunstwerk, dann von seiner<br />
gesellschaftlichen umwelt? Von solchen<br />
internen orientierungen eines Kritikers ist es<br />
nicht mehr weit bis zur Frage, ob der Markt<br />
<strong>Europa</strong> <strong>liest</strong><br />
nicht tatsächlich die immer wieder von intellektuellen<br />
eingeklagte Nähe zu den Vielen<br />
differenziert und zwanglos herstellt, wie<br />
die Be<strong>für</strong>worter sagen. oder erzeugt er eine<br />
art swingender Öffentlichkeit neuen typs,<br />
die vertriebs-, also betriebswirtschaftlich getrieben,<br />
eine demokratische operative kulturelle<br />
praxis, nämlich die argumentierende<br />
analytische Kritik als Öffentlichkeitsmodus<br />
ersetzt?<br />
Von diesem die literaturkritik betreffenden<br />
Befund scheint es ein weiter Weg bis<br />
zur Frage, wie sich der austausch der Nationalliteraturen<br />
in europa entwickeln wird.<br />
aber soviel ist klar: dass eigensinn und eigenlogik<br />
des ästhetischen und literaturkritischen<br />
Diskurses ein Navigationsmittel<br />
zwischen den Kulturen sind, dass sie unabhängiger<br />
machen von der logik des Markterfolgs.<br />
sie können gewährleisten, dass die literatur<br />
kleiner sprachen, dass die literatur aus<br />
kleineren Verlagen, dass die schwierig und<br />
also aufwändig zu übersetzende literatur<br />
überhaupt eine chance bekommen. Das ist<br />
zur Belebung des gesamten Feldes so wichtig,<br />
dass selbst die zentralen Marktagenten<br />
interesse an dieser ästhetisch-kritischen, eigenständigen<br />
und gleichwohl mit dem Gemeinwesen<br />
eng koordinierten literarischen<br />
Kultur haben müssen.<br />
Hubert Winkels, Jahrgang 1955, ist Literaturredakteur<br />
beim „Deutschlandfunk“. 1988 erschien<br />
vom ihm im Rowohlt Verlag der Erzählband „Ausnahmezustand“.<br />
Er veröffentlicht regelmäßig Literaturkritiken<br />
in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Er<br />
war Gastprofessor <strong>für</strong> Literatur und Medien in Essen<br />
(1998) und Gastprofessor <strong>für</strong> Literaturkritik an<br />
der Universität Göttingen (1999/2000). 2007 wurde<br />
Winkels mit dem Alfred-Kerr-Preis <strong>für</strong> Literaturkritik<br />
ausgezeichnet.<br />
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