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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:00 Uhr Seite 12<br />

II. Religiöse und politische<br />

Identitätskonflikte<br />

2. Die identitätsstiftende Kraft<br />

der Kreuzzüge<br />

Cajus Wypior<br />

Haben die Kreuzzüge bei der Ausbildung einer gesamteuropäischen<br />

Identität einen zentralen Stellenwert gehabt?<br />

Die Bildungsstandards für das allgemein bildende Gymnasium<br />

in Baden-Württemberg legen dies mit ihrer Forderung,<br />

die »Bedeutung die Kreuzzüge für die Formierung Europas« zu<br />

beurteilen, nahe. Nach wie vor wird in der Wissenschaft über<br />

die Ursachen, vor allem aber die Folgen der Kreuzzüge für<br />

Europa gestritten. In der Auseinandersetzung der USA mit islamischen<br />

Staaten werden die Kreuzzüge zudem als historischer<br />

Bezugspunkt immer wieder genannt. Welche identitätsstiftende<br />

Kraft die Kreuzzüge des hohen Mittelalters durch die<br />

Jahrhunderte hin besaßen und wie konfliktträchtig deren Interpretation<br />

bis heute ist, soll im Folgenden kritisch untersucht<br />

werden.<br />

Rückblick auf die Kreuzzüge<br />

12<br />

Abb. 1 Siegel Kaiser Friedrichs II. als König von Jerusalem und von Sizilien,<br />

13. Jahrhundert © Cambridge, Corpus Christi College, M Ss 16. fol 127r<br />

Überaus spannend hat Nikolas Jaspert die Gedächtnisgeschichte<br />

der Kreuzzüge skizziert. Das Wort Kreuzzug wurde wohl erst im 17.<br />

Jahrhundert von Leibniz geprägt (Thorau). Umstritten ist, was als<br />

ein Kreuzzug bezeichnet werden soll. Sind nur die Züge bis 1291<br />

gemeint, alle von Päpsten ausgerufenen Kriegszüge oder sind<br />

schon die Motive der Reisenden ausschlaggebend? Welche Kreuzzüge<br />

sollen gezählt und somit als solche wahrgenommen werden?<br />

In Deutschland wird dem Kreuzzug Friedrichs II. von 1227–1229<br />

eine Ordnungszahl gegeben, in Frankreich nicht. Die großen, aber<br />

erfolglosen Züge von 1101 nach Anatolien werden überhaupt nicht<br />

gezählt. Jüngst hat der Historiker Christopher Tyerman sogar die<br />

Existenz der Kreuzzüge überhaupt in Frage gestellt.<br />

Bereits kurz nach dem 1. Kreuzzug setzten Verklärung und Mythenbildung<br />

ein. In Chroniken, Aufrufen, Predigten und volkssprachlichen<br />

Dichtungen wurden die Kreuzzüge nicht nur zum<br />

»fundierenden Mythos« (Jaspert (a), S. 212) der Kreuzfahrerstaaten<br />

selber, sondern erhielten generell Herrschaft legitimierende<br />

Funktion (I Abb. 1 I). Die mittelalterlichen Quellen betonten den<br />

Vorbildcharakter der großen Helden. Die Chanson de Geste, das<br />

Rolandslied und andere Kreuzzugsdichtungen verherrlichten das<br />

Kreuzritterideal. Auch für die Ahnen galt die Kreuzzugsteilnahme<br />

der Vorfahren noch als Auszeichnung. Sie wirkte für viele Adelsgeschlechter<br />

bis weit in die Neuzeit identitätsstiftend.<br />

Ganz anders als zur Zeit der Aufklärung galten Kreuzzüge im<br />

19. Jahrhundert als entbehrungsreiche Hingabe an eine höhere<br />

Sache. Sie wurden anfangs, auch unter dem Einfluss Novalis’ und<br />

seiner Vision eines christlichen Abendlandes als Gemeinschaftsunternehmen<br />

aller Christen gedeutet. Literatur, Kunst und Musik<br />

des 19. Jahrhunderts griffen romantisierend auf das Mittelalter zu<br />

und idealisierten die Kreuzzüge: Walter Scott: Ivanhoe, Tales of<br />

the Crusader; August von Kotzbue: Die Kreuzfahrer; Eugène Delacroix:<br />

Der Einzug der Kreuzfahrer in Konstantinopel; Julius<br />

Schnorr von Carolsfeld: Der Tod des Barbarossa (I M2I), Carl<br />

Friedrich Lessing: Die Rückkehr des Kreuzfahrers; Rossini: ll<br />

Conte Ory; Verdi: Aroldo; Schubert: Der Kreuzzug. Der Hochadel<br />

versuchte die alten Ritterorden wieder zu beleben oder neu zu<br />

gründen. Die Achtung der ehemaligen Feinde, der Muslime,<br />

wuchs, wie z. B. Lessing: Nathan der Weise; Walter Scott: The Talisman,<br />

belegen. Bemerkenswert ist die besondere Hochschätzung<br />

Saladins. Schon im Mittelalter angelegt, erreichte sie einen<br />

ersten Höhepunkt in der Aufklärung und steigerte sich mit der<br />

Herausstellung einzelner idealtypischer Helden im 19. Jahrhundert.<br />

Das identitätsstiftende Potential und die Vorbildwirkung solcher<br />

Helden werden am Besuch Wilhelms II. am Grab Saladins<br />

deutlich. Er legte u. a. einen vergoldeten Lorbeerkranz nieder mit<br />

der arabischen Inschrift »Von einem großen Kaiser dem anderen«<br />

(I Abb. 2 I). Auch auf das aufstrebende Bürgertum hatten die idealisierenden<br />

und romantisierenden Kreuzzugsdarstellungen erzieherische<br />

Wirkung. Nachgeahmte Ritterlichkeit, in all seinen<br />

Facetten für Moral und persönliches Verhalten zwischen vollkommener<br />

Hingabe und korrekten Umgangsformen, wurde zur Eintrittsbedingung<br />

sozialen Aufstiegs und zu einem Charakteristikum<br />

des leistungsorientierten Bürgers in den immer noch<br />

ständischen Gesellschaften. Auch die katholische Kirche benutzte<br />

bis weit ins 20. Jahrhunderte die Kreuzzüge für die religiöse und<br />

sittliche Erziehung (I M2I).<br />

Kreuzzugsrezeption in der Moderne<br />

Wie sehr der Mythos der Kreuzzugshelden bis heute nachwirkt<br />

und immer noch als Subtext des kollektiven Geschichtsbewusstseins<br />

präsent ist, zeigt das Beispiel von Richard Löwenherz. Obwohl<br />

in den mittelalterlichen Robin-Hood-Erzählungen nicht enthalten,<br />

wurde er als Typus in das feste Inventar der Legende<br />

übernommen. Noch heute taucht er, erlösergleich, am Ende der<br />

meisten Robin-Hood-Filme als Verkörperung des edlen und gerechten<br />

Herrschers auf, mit dessen Rückkehr Frieden und Ordnung<br />

Einzug halten. Ein Signal, das immer noch von den Zuschauern<br />

verstanden wird<br />

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts griff die Geschichtswissenschaft<br />

die Kreuzzüge intensiv auf. Ihre Forschungen<br />

dienten auch der Legitimation nationaler Interessen in der<br />

Zeit des Kolonialismus. Vor allem französische und englische Historiker<br />

benutzten die Kreuzzüge, um aktuelle Herrschaftsansprüche<br />

zu legitimieren, indem Kontinuitäten zu ehemaligen Kreuz-<br />

Die identitätsstiftende Kraft der Kreuzzüge<br />

Heft 53 · 2007

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