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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:02 Uhr Seite 53<br />

Abb. 2 Die Kurfürsten von Sachsen: Friedrich III., der Weise, Johann der Beständige, Johann Friedrich I., der Großmütige, Tafelbild von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1532)<br />

© Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz<br />

sich ohnmächtig, erniedrigt, in seiner Persönlichkeit kastriert, er<br />

sieht kein Vernunft regiertes Handeln um sich herum. Entscheidend<br />

ist aber bei seinem Paradigmenwechsel, dass er sich selbst<br />

als Rechtsvertreter sieht, dem es obliegt, die Rechtssicherheit im<br />

Lande mit Gewalt wiederherzustellen. So beginnt er zunächst<br />

einen Rachefeldzug gegen den Junker von Tronka, der ihm dieses<br />

Unrecht angetan hat. Mit diesem Rachebegehren will er seine verletzte<br />

Menschenwürde wieder zurückgewinnen und damit zumindest<br />

einen Teil seiner früheren Identität wieder herstellen. Erst<br />

nachdem er Tronkas nicht habhaft werden kann, weil dieser, von<br />

Staatsorganen geschützt, immer wieder Unterschlupf findet, zieht<br />

er gegen den Staat selbst zu Felde.<br />

Dabei fordert er mit Mandaten, die er öffentlich an Kirchentüren<br />

aufhängt, die Bevölkerung auf, den Junker auszuliefern. Diese hat<br />

er trotz seiner mehrfachen Brandschatzung von Wittemberg und<br />

Leipzig hinter sich, da sie von dem »Blutigel« und »Menschenquäler«<br />

Tronka befreit werden will. Da der Junker immer wieder mit<br />

Hilfe Verbündeter seines Standes fliehen kann, muss Kohlhaas<br />

das ihm persönlich angetane Unrecht ins Allgemeine verabsolutieren:<br />

er fühlt sich aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen<br />

und schutzlos dem Nepotismus und der Willkür preisgegeben.<br />

Er will die ›Weltordnung‹ selbst wieder herstellen, indem<br />

er Wittenberg mehrere Male anzündet und auch Unschuldige<br />

dabei umkommen lässt und gegen die Truppen, die ihm entgegengestellt<br />

werden, zu Felde zieht und siegt.<br />

Er fordert nur bzw. nichts Geringeres von den Herrschenden, als die<br />

Wiederherstellung der Harmonie seines in Unordnung gebrachten<br />

Rechtsgefühls, hier gleichzusetzen mit seiner Ich-Identität, und legitimiert<br />

seinen Rachefeldzug mit der Forderung nach Schutz für<br />

seinen Handel als »Roßkamm« und Rücksicht auf seine Privatinteressen.<br />

Die Einforderung dieses Schutzes beinhaltet für ihn die Bestrafung<br />

des Junkers von Seiten der Obrigkeit und die Wiederherstellung<br />

seiner Rappen. In »einer Art Verrückung« sieht er sich<br />

dabei als »Statthalter Michaels, des Erzengels, der gekommen sei<br />

mit Feuer und Schwert die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken<br />

sei, zu bestrafen« (Kleist, S. 42); damit versteigt er sich in einen<br />

Größenwahn und nimmt eine Pseudo-Identität an (Kwak, S. 123).<br />

Diese psychische Deformation ist eine Folge, ein Resultat des<br />

machtpolitischen Treibens einzelner Träger der Staatspolitik,<br />

deren Antriebskräfte nur in persönlichen Motiven liegen: nämlich<br />

dem eigenen Machtgewinn, sexueller Begehrlichkeit (die Verbindung<br />

des Kurfürsten von Sachsen zur Dame Héloise ist maßgebend)<br />

und persönlicher Anerkennung; sie missbrauchen ihre<br />

Funktionen im Staatswesen einzig und allein zur eigenen Machterhaltung<br />

und –erweiterung. Dieses ungezügelte Treiben führt zu<br />

einer völligen Rechtsunsicherheit.<br />

Im Gespräch mit Luther (I M1I) stützt sich Kohlhaas sowohl auf<br />

das alte feudale Fehderecht als auch auf das Rousseausche Naturrecht<br />

und das in der französischen Verfassung (1791) verbriefte<br />

Recht auf Widerstand gegen die Unterdrückung, die ihn dazu berechtigen,<br />

sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, wenn diese ihm<br />

das ihm zustehende Recht auf Unversehrtheit und Schutz der Geschäfte<br />

versagt.<br />

Verstoßen, antwortete Kohlhaas, indem er die Hand zusammendrückte,<br />

nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! Denn dieses Schutzes,<br />

zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich; ja, er ist es,<br />

dessenthalben ich mich, mit dem Kreis dessen, was ich erworben, in diese<br />

Gemeinschaft flüchte; und wer mir ihn versagt, der stößt mich zu den Wilden<br />

der Einöde hinaus; er gibt mir, wie wollt Ihr das leugnen, die Keule, die<br />

mich selbst schützt, in die Hand. (Kleist S. 47)<br />

Kleist lässt sogar Kohlhaas gestisch seine von den Staatsträgern<br />

zerdrückte Identität nachformen (»[…] indem er die Hand zusammendrückte<br />

[…]«).<br />

Durch das Gespräch mit Luther (I Abb. 3 I) wird Kohlhaas zunächst<br />

auf den rechtsstaatlichen Weg zurückgeführt und sein<br />

Rechtsgefühl steht wieder in Harmonie zu den staatlichen Ordnungsinstanzen<br />

und deren Instrumenten. Doch die staatspolitischen<br />

Antriebskräfte bleiben wirksam und arbeiten weiter an seinem<br />

Untergang. Seiner durch die Zusicherung des freien Geleits<br />

nach Dresden neu gewonnenen (aber labilen) Identität, auch<br />

darin ersichtlich, dass er seine Kinder zu sich holt und ihnen ein<br />

liebender Vater ist, wird durch das Abhan-denkommen der Zustimmung<br />

aus dem Volk, das sich in der ›Abdecker Szene‹ der Obrigkeit<br />

zuwendet, erneut der Boden entzogen. Kohlhaas wird zerrieben<br />

zwischen den Machtinstrumenten und seiner eigenen<br />

beschädigten Identität. Diese Entwicklung kulminiert in dem von<br />

den Instanzen der Obrigkeit abgefangenen »als Finte gemeinte[n]«<br />

(Eybl S. 198) Brief Kohlhaas’ an den Aufrührer Nagelschmidt,<br />

durch den er sich eine neue Identität zu erschaffen hofft:<br />

er will ja eigentlich nach Amerika fliehen.<br />

Durch die Einschaltung des Kurfürsten von Brandenburg, seines<br />

eigentlichen Landesherrn, der die Auslieferung seines Staatsbür-<br />

53<br />

Heft 53 · 2007<br />

Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist

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