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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:02 Uhr Seite 46<br />

46<br />

lich die ausführliche beschreibende Entfaltung des Befremdlichen<br />

als Vorgang.<br />

Wie hätte das erste Kapitel des Prozess-Romans sich entwickelt,<br />

wenn der erste Satz in seiner ursprünglichen Form stehen geblieben<br />

wäre? Wäre eine Abenteuergeschichte mit Fangen – Ausbrechen<br />

– Wiederfangen und dem Kampf des einzelnen gegen den<br />

Apparat daraus geworden, wie sie Walter Jens in seinem frühen<br />

Roman ›Nein – Die Welt der Angeklagten‹ in Anlehnung an Kafkas<br />

Prozess ausführt?<br />

Auf der fünften Manuskriptseite zeigt sich die dauerhafte Faszination<br />

des weggelassenen Erzählmodells. Kafka schreibt »gefangen«,<br />

wo er eigentlich »verhaftet« hätte schreiben müssen. Der<br />

Freund Brod korrigiert in diesem Sinne und druckt – die Handschrift<br />

negierend – in der Tat »verhaftet«.<br />

Das Wortfeld »fangen« korrespondiert inhaltlich und etymologisch<br />

mit »Gefängnis«. Dieser Begriff spielt in Kafkas Aphorismen<br />

eine wichtige Rolle. Die Ähnlichkeit zwischen dem Aphorismus<br />

aus der Sammlung ›Er‹ (I M3I) und dem Prozess-Roman ist auffällig.<br />

Man kann daraus schließen, dass Kafka die gestrichene »Gefangenen«-Version<br />

auch noch nach Jahren als Metapher auf sich<br />

selbst bezog. Das Thema, »Gefangensein, ohne gefangen zu<br />

sein«, war für ihn mit der Niederschrift des Romanfragments also<br />

unerledigt geblieben.<br />

Erzählexperimente zum Problem:<br />

»Verhaftet – Gefangen – Gehetzt«<br />

Produktive Aufgabenstellungen haben zum Ziel, in die Interpretationsarbeit<br />

Formen der subjektiven, interessegeleiteten Auseinandersetzung<br />

einzuführen. Aber Alltagsphantasie und dichterische<br />

Phantasie sind möglicherweise nicht so eng aufeinander zu<br />

beziehen, wie es die Vertreter des produktiven Literaturunterrichts<br />

tun.<br />

Viele Fragen bleiben offen.<br />

Oft finden sich statt einer Auseinandersetzung mit Kafkas Text<br />

– Vereinfachungen zu psychologischen Gebrauchstexten,<br />

– Paraphrasen aus der Perspektive eines am Geschehen Beteiligten,<br />

– Abwehr durch Verfremdungen verschiedener Art: historische<br />

Verfremdung; Transformation ins Komische,<br />

– formales Experimentieren mit Zitaten, Stilkopien, Parodien.<br />

Die Kombination der exakten und kleinschrittigen Beobachtung<br />

an der Handschrift mit einer produktiven Aufgabenstellung kann<br />

einen heuristischen Wert haben.<br />

Im konkreten Fall der ersten Seiten von Kafkas Prozesshandschrift<br />

heißt das: Die Doppelbedeutungen der Begriffe »verhaftet« (»festgenommen«<br />

oder »einer Sache verhaftet« sein) und »gefangen«<br />

(»eingesperrt« oder »fasziniert von etwas sein«) steuern auf eine<br />

Doppelbedeutung jeder Szene hin, die im »Prozess«-Milieu angesiedelt<br />

ist. Immer kann alles Berichtete »Zeichen« für etwas anderes<br />

sein.<br />

Dass die »Göttin der Jagd« hinter der »Göttin der Gerechtigkeit«<br />

auftaucht (Josef K. beobachtet diese Verwandlung auf einem Bild<br />

des Malers Titorelli) und dass das Gerichtsverfahren immer wieder<br />

mit einer Treibjagd identifiziert werden kann (Leni spricht<br />

davon am Anfang des Dom-Kapitels), erzeugen Desorientierung<br />

beim Leser, die aus der Überschneidung der beiden getrennten<br />

Felder des Justitia und der Diana resultiert. Stellt der »Prozess« ein<br />

Begehren nach Gesetz und Gerechtigkeit dar, so wie es die Prozesslegende<br />

nahe legt, oder handelt es sich um die Jagd nach<br />

einem Opfer, wie es Josef K. erscheint?<br />

Das Schlusskapitel, gleich nach dem ersten Kapitel geschrieben,<br />

mutet wie eine bewusst aufgebaute Kontrafaktur der Verhaftung<br />

an. Verhaftung und Hinrichtung sind Teile eines Geburtstagszermoniells,<br />

die zwei Herren, die K. abholen, nehmen sich wie Doppelgänger<br />

der zwei Wächter aus, die ihn am Morgen der Verhaftung<br />

im Schlaf überraschen. In beiden Kapiteln taucht Fräulein<br />

Bürstner (F.B.), das Maschine schreibende Fräulein, auf. Am<br />

Schluss legen sich die Hände des einen Herren um Josef K.s Hals,<br />

so wie er ein Jahr zuvor – am Ende des abendlichen Gesprächs –<br />

die seinen um den Hals des Fräuleins gelegt hatte. Was hat dieses<br />

»Überschreibung« des Anfangs durch das Ende zu bedeuten? Gerhard<br />

Neumann 4 glaubt an Metamorphosen ein und derselben<br />

Grundkonstellation des Lebens als Abfolge »riskanter Augenblicke«.<br />

Einer davon ist die Verhaftung, ein anderer die Hinrichtung.<br />

Eigentlich besagen beide das Gleiche.<br />

»Wie ein Hund!«, sagte er. Es war als sollte die Scham ihn überleben<br />

(I M4I). Dreimal setzt Kafka zum Schlusssatz an: »Wie ein<br />

Hund«, sagte er,<br />

– sein letztes Lebensgefühl war Scham<br />

– bis ins letzte Lebensgefühl blieb ihm die Scham nicht erspart<br />

– es war, als sollte die Scham ihn überlegen.<br />

»Scham« als Lebensgefühl ist elementar und instinktgebundene<br />

Furcht vor Ausgrenzung und Verstoßung. Scham bedeutet Angst<br />

vor totaler Verlassenheit, (…) vor psychischer Vernichtung. Von<br />

Adam und Eva heißt es, dass sie sich nach dem Sündenfall ihrer<br />

Nacktheit schämten. Scham und Schande gehören zusammen, insofern<br />

als Scham die Wahrnehmung eigener und fremder Unvollkommenheit<br />

markiert.<br />

Bei Nichterfüllen von Leistungsanforderungen sind Beschämungen<br />

Angstauslöser. Das ist in Kafkas erster Variante angesprochen.<br />

Josef K. hat versagt. Im Zentrum des Gedankens steht die<br />

Person Josef K., die durch das Lebensgefühl des Scheiterns beherrscht<br />

sieht. Die zweite schwächt dies Urteil ab, sie bedauert,<br />

nichts Besseres über Josef K. vermelden zu können. Die dritte hingegen<br />

gibt der Scham eine überindividuelle Größe, so etwas wie<br />

eine »Seele«, die Josef K.s Tod überdauert.<br />

Damit hat sich Kafka für die »theologischste« der drei Formulierungsmöglichkeiten<br />

entschieden. So wie Jedermann in einem barocken<br />

Welttheater seinen Auf- und Abtritt zwischen abstrakten<br />

Größen (Reichtum, Schönheit, Macht) vollzieht, scheint der Tod<br />

des Josef K. durch den Prozess und die Scham bestimmt. Er, der<br />

im Gespräch mit dem Geistlichen festgestellt hatte, dass die<br />

»Lüge zur Weltordnung« gemacht werde, der auf seine abschließenden<br />

Fragen keine Antwort bekommt: »Wo war der Richter, den<br />

er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht bis zu dem er nie<br />

gekommen war?«, kann nicht von einem individuellen Gefühl bestimmt<br />

die Welt verlassen.<br />

Was liegt näher, als hinter »Scham« in dieser Formulierung tatsächlich<br />

»Schande«, also einen Fehler in der Weltordnung, der<br />

durch Josef K.s Ermordung nicht behoben wird, zu sehen?<br />

Offen bleibt bis zuletzt, wie diese Scham zu einer Schande (also<br />

auch andere betreffend) wird oder ob sie doch der Fall von<br />

»Schuld« des vom Prozess verfolgten und für zu leicht Befundenen<br />

Einzelmenschen bleibt.<br />

Um was geht es eigentlich im »Prozess«?<br />

Der Umgang mit der Mehrdeutigkeit<br />

Zwei kleine Bruchstücke aus dem umfänglichen Romanmanuskript<br />

hat Kafka selbst veröffentlicht. Sie eignen sich für eine Interpretation,<br />

insofern als sie die Grundkonstellation des Romans<br />

erfassen und zugleich die extreme Mehrdeutigkeit des gesamten<br />

Fragments spiegeln.<br />

›Ein Traum‹<br />

Kafkas ›Ein Traum‹ beginnt harmlos und alltäglich wie seine Erzählung<br />

›Das Urteil‹, mit einem Spaziergang an einem schönen<br />

Tag. Doch dann treibt es Josef K. gleich über den Friedhof. Das<br />

Unerhörte reißt ihn in ein Labyrinth von unbekannten Wegen,<br />

aber in schwebender Haltung gleitet er über reißende Wasser. Reminiszenzen<br />

aus anderen Schreibsituationen Kafkas stellen sich<br />

ein. Mit dem Vorwärtskommen im fließenden Wasser hatte er im<br />

Tagebuch die Niederschrift des Urteil verglichen, die Fahnen auf<br />

Franz Kafkas Roman – Der Prozess<br />

Heft 53 · 2007

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