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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:03 Uhr Seite 63<br />

die sich durch alle Geschichten um Liebe und Liebesverrat zieht«<br />

(von Matt S. 87), ästhetisch verwirklicht. All das zitiert Brecht in<br />

seinem Gedicht – und er tut dies, über das Wörtliche hinaus,<br />

indem er auch die Form der ästhetischen Realisierung verwendet:<br />

die Terzine, die Dante-Strophenform. Das reine Zitat indessen<br />

wäre allenfalls Bildungs-Reminiszenz. Brecht aber desillusioniert<br />

auf allen Ebenen: Die Terzinenform wird destruiert, »Wörter der<br />

reinen Negativität – nirgends hin, von allen davon« (von Matt S.<br />

90) gewinnen die Vorherrschaft und die Desillusionierung geschieht<br />

eben durch jene Kommentarebene, die in der Zeile mit<br />

der Waise auch formal hervorgehoben ist. Die Utopie geglückter<br />

Liebe ist Schein, »es braucht die Hölle, um das Glück zu erhalten.«<br />

›A une passante‹ – Augenblicke der Lyrik<br />

Abb. 3 Ernst Ludwig Kirchner, Potsdamer Platz, Berlin (1914)<br />

© Ernst Ludwig Kirchner/Henze<br />

Der Blick auf europäische Ur-Geschichten radikalisiert, so dürfte<br />

deutlich geworden sein, das Thema Liebeslyrik. Die medial präformierten<br />

Bilder von Liebe sind solche der Verharmlosung, des<br />

(auch nationalen) Klischees. Auch die weiteren Beispiele für deutsche<br />

und nichtdeutsche Liebeslyrik perforieren solche Klischees.<br />

Kanonisiert geradezu ist Baudelaires ›A une passante‹ (I M8I).<br />

Die Liebe des Dichters zu der flüchtig Vorbeieilenden entsteht aus<br />

der Fazination für die Großstadt, aus deren nicht geschilderter<br />

und doch präsenter Masse die eine Vorübergehende plötzlich heraus<br />

sticht und zum Urbild der Großstädterin wird (I Abb. 2 I,<br />

I M9I). »Die Entzückung des Großstädters ist eine Liebe nicht sowohl<br />

auf den ersten als auf den letzten Blick. Es ist ein Abschied<br />

für ewig, der im Gedicht mit dem Augenblick der Berückung zusammenfällt.<br />

So stellt das Sonett die Figur des Choks …« (Benjamin<br />

S. 216).<br />

Das Gedicht als Augenblick, als momenthaftes Konzentrat der<br />

Wahrnehmung, dieser gattungspoetische Grundgedanke stimmt<br />

auch für die Liebeslyrik: Die Kürze von Gedichten, ihre verdichtete<br />

Sprache, ihr Herstellen von Gegenwart sind Momente des Auslöschens<br />

der Zeiterfahrung im Augenblick des Gedichtes, in dem<br />

gleichwohl nicht Überzeitliches transportiert, sondern »eine historisch<br />

spezifische Erfahrung der Welt und des Menschen« »gerinnt«.<br />

»Das Gedicht zeigt uns die Innenseite der Außenseite der<br />

Geschichte.«<br />

Weitere Zeugnisse können diese Dialektik von Subjektivität und<br />

Geschichte bestätigen: die, die als ›reine‹ Liebesgedichte englischer<br />

und französischer Provenienz gelten können (I M9I), und<br />

besonders jene, in denen das Private des Liebesgefühls sich mit<br />

dem Politischen amalgamiert: in dem Klagelied Heinz Czechowskis<br />

(I M10I), in dem die polnisch-deutsche Geschichte die<br />

Liebesnacht überwältigt; in den Résistance-Gedichten Paul Eluards<br />

(I M11I) ebenso wie in der politischen Liebeshymne an<br />

Frankreich, der Yvan Goll die visuelle Form des lothringischen<br />

Doppelbalken-Kreuzes gegeben hat (I M12I).<br />

Dass Liebeslyrik aus einem sehr wenig bekannten Terrain Europas<br />

eigenwillige eigene Akzente setzen kann, belegen die Gedichte<br />

van Ostajens (I M13I und I M14I): lakonischer Anschluss an eine<br />

mythische Gestalt deutscher Lyrik, die Loreley, und die lyrische<br />

Liebeserklärung an das Allereigenste: das Gedicht selbst.<br />

An alledem mag, über die Grenzen nationaler Literatur hinaus,<br />

das Gemeinsame europäischer Literatur, vielleicht aller Literatur<br />

sich einprägen: dass sie »ja nicht die Übersetzung rationaler Diskurse<br />

in Bilder (ist: T. K.) , in symbolisch-allegorische Zeichenketten,<br />

deren Sinn sich ergibt, wenn man sie wieder rückübersetzt.<br />

Vielmehr ist das, was die Literatur vollzieht, ein anderes Denken,<br />

parallel zur Arbeit der strikten Vernunft, gleichwertig, aber in den<br />

Ergebnissen anders und auch auf andere Bedürfnisse antwortend.<br />

Deshalb ist, was im einzelnen literarischen Werk (…) geschieht,<br />

nie ganz übersetzbar in die Kategorien der rationalen Diskurse.«<br />

Deshalb mag es lohnen, dem Skandalon und dem Rätsel Liebe auf<br />

der eben nicht übersetzbaren (und deshalb im fremdsprachigen<br />

Original gegebenen) Bildebene mehrerer Sprachen nachzugehen:<br />

die Sprache der Lyrik als unübersetzbare Fremdsprache im doppelten<br />

Sinn. Vielleicht liegt darin die wichtigste Legitimation der<br />

Auseinandersetzung mit europäischer Lyrik liegen.<br />

Literaturhinweise<br />

Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. Beck.<br />

München 2000<br />

Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire. In: ders.: Illuminationen.<br />

Suhrkamp. Frankfurt am Main 1969<br />

Kaiser, Gerhard: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther<br />

bis Paul Celan. Insel-Verlag. Frankfurt am Mein 1987<br />

Knopf, Jan: Amor,lieblos. Brechts Terzinen über die Liebe mit einem Ausblick<br />

auf die Marie A. In: Der Deutschunterricht VI, 1994 (Brecht)<br />

Lüdeking, Karlheinz: Die Wörter und die Bilder und die Dinge. Magritte und<br />

Fouvault. In: Magritte, René: Die Kunst der Konversation. Katalogbuch zur<br />

Düsseldorfer Ausstellung von 1997. Prestel. München 1996<br />

Matt, Peter von: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. Hanser 1989, dtv<br />

München 1991<br />

63<br />

Heft 53 · 2007<br />

verbindendes kulturelles Gedächtnis durch europäische Lyrik

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