deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...
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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:03 Uhr Seite 65<br />
M 4<br />
Bertolt Brecht, Terzinen über die<br />
Liebe<br />
Sieh jene Kraniche in großem Bogen!<br />
Die Wolken, welche ihnen beigegeben<br />
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen<br />
Aus einem Leben in ein andres Leben.<br />
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile<br />
Scheinen sie alle beide nur daneben.<br />
Daß also keines länger hier verweile<br />
Daß so der Kranich mit der Wolke teile<br />
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen<br />
Und keines andres sehe als das Wiegen<br />
Des andern in dem Wind, den beide spüren<br />
Die jetzt im Fluge beieinander liegen.<br />
So mag der Wind sie in das Nichts entführen;<br />
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben<br />
So lange kann sie beide nichts berühren<br />
M 6 René Magritte, Les Amants © akg-images<br />
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben<br />
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.<br />
So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben<br />
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.<br />
Wohin, ihr?<br />
Nirgendhin.<br />
Von wem entfernt?<br />
Von allen.<br />
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?<br />
Seit kurzem.<br />
Und wann werden sie sich trennen?<br />
Bald.<br />
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.<br />
Brecht, Bertolt: Gesamtausgabe (GBA) 14, S. 15f<br />
M 5<br />
Dante, »Göttliche Komödie«, Die Hölle<br />
Fünfter Gesang<br />
So ging’s hinab vom ersten Kreis zum zweiten,<br />
Der kleinern Raum, doch größres Weh umringt,<br />
Das antreibt, Klag und Winseln zu verbreiten.<br />
Bald hört’ ich nun, wie Jammertön erschollen;<br />
Denn ich gelangte nieder zu dem Haus,<br />
Zur Klag’ und dem geheul der Unglücksvollen.<br />
Jedwedes Licht verstummt’ im dunklen Graus,<br />
das brüllte, wie, wenn sich der Sturm erhoben,<br />
Beim Kampf der Winde lautes Meergebraus.<br />
Nie ruht der Höllen-Worbelwind vom Toben<br />
Und reißt zu ihrer Qual die Geister fort<br />
Und dreht sich um nach unten und nach oben.<br />
Ihr Jammerschrei, Geheul und Klagewort,<br />
Nahn sie den trümmervollen Felsenklüften,<br />
Verlästern fluchend Gottes Tugend dort.<br />
Dass Fleisches-Sünder dies erdulden müssten,<br />
Vernahm ich, die, verlockt vom Sinnentrug,<br />
Einst unterwarfen die Vernunft den Lüsten.<br />
So wie zur Winterszeit mit irrem Flug<br />
Ein dichtgedrängter breiter Tross von Staren,<br />
So sah ich hier im Sturm der Sünder Zug<br />
Hierhin und dort, hinauf, hinunter fahren,<br />
Gestärkt von keiner Hoffnung, mindres Leid,<br />
Geschweige jemals Ruhe zu erfahren.<br />
Wie Kraniche, zum Streifen lang gereiht,<br />
In hoher Luft die Klagelieder krächzen,<br />
So sah ich von des Sturms Gewaltsamkeit<br />
Die Schatten hergeweht mit bangem Ächzen.<br />
»Wer sind die, meister, welche her und hin<br />
Der Sturmwind treibt und die nach Ruhe lechzen?«<br />
Den Paris sah ich dort, den Tristan schweben,<br />
Und tausend andre zeigt’ und nannt’ er dann,<br />
Die Liebe fortgejagt aus unserm Leben.<br />
Lang hört’ in den Bericht des Lehrers an<br />
Von diesen Rittern und den Frau’n der Alten,<br />
Voll Mitleid und voll Angst, bis ich begann:<br />
»Mit diesen Zwein, die sich zusammen halten,<br />
Die, wie es scheint, so leicht im Sturme sind,<br />
Möcht’ ich, o Dichter, gern mich unterhalten.«<br />
Und er darauf: »Gib Achtung, wenn der Wind<br />
Sie näher führt, dann bei der liebe flehe,<br />
Die beide führt, da kommen sie geschwind.«<br />
Kaum waren sie geweht in unsre Nähe,<br />
Als ich begann: » Gequälte Geister, weilt,<br />
Wenn’s niemand wehrt, und sagt uns euer Wehe.«<br />
Gleich wie ein Taubenpaar die Lüfte teilt,<br />
Wenn’s mit weit aufgespreizten steten Schwingen<br />
Zum süßen nest herab voll Sehnsucht eilt:<br />
So sah ich sie dem Schwarme sich entringen,<br />
Bewegt vom Ruf der heißen Ungeduld,<br />
und durch den Sturm zu uns sich niederschwingen.<br />
Dante, Göttliche Komödie, übersetzt von Karl Streckfuß, Klett-Cotta, ohne Jahrgang, S. 98<br />
65<br />
Heft 53 · 2007<br />
verbindendes kulturelles Gedächtnis durch europäische Lyrik