deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...
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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:02 Uhr Seite 54<br />
54<br />
gers durchsetzt, wird Kohlhaas’ Angelegenheit in scheinbar<br />
durchschaubarere Bahnen gelenkt. Er wird wegen Landfriedensbruch<br />
zum Tode verurteilt, auch im Namen des Kaisers, der<br />
höchsten Instanz der Macht. Andererseits geschieht ihm auch<br />
Recht, indem der Junker mit Gefängnis bestraft wird, die Pferde<br />
ihm wohl ernährt zurückerstattet und der Mutter seines Knechtes<br />
Herse dessen Kurkosten erstattet werden. Kohlhaas’ Identität als<br />
Staatsbürger (citoyen) ist damit wieder hergestellt. Dies wird auch<br />
damit unterstrichen, dass er noch von vielen Freunden im Gefängnis<br />
besucht wird und »nichts der Ruhe und Zufriedenheit seiner<br />
letzten Tage« gleicht (Kleist, S. 113).<br />
Die völlige Wiederherstellung seiner Identität erlangt Kohlhaas<br />
aber erst durch die Befriedigung seiner Rache am Kurfürsten von<br />
Sachsen. Hier spielt der Zettel mit der Weissagung über die Zukunft<br />
des Hauses Sachsen, den Kohlhaas von der ›Zigeunerin‹ erhalten<br />
hat, die entscheidende Rolle. Indem Kohlhaas diesen verschlingt<br />
und damit dem Kurfürsten »weh« (Kleist, S. 97) tut,<br />
vernichtet er dessen Identität. Dieser sinkt denn auch »ohnmächtig,<br />
in Krämpfen nieder«.<br />
Damit hat er seine Rachbegierde befriedigt und seine Menschenwürde<br />
wiedererlangt. In seinen Söhnen wird er dann geadelt aus<br />
dem Geschehen hervorgehen. Im Augenblick des Todes erringt<br />
Kohlhaas also die höchste Macht.<br />
Dass Kleist seinen eigenen Namen und den seines Bruders den<br />
Söhnen von Kohlhaas gibt, lässt ihn selbst in die Nachfolge von<br />
Kohlhaas treten. Eine interessante biografische Spur der Identitätssuche<br />
des Autors.<br />
Die Schrift als Mittel der Machtdurchsetzung<br />
Eine weitere Lesart eröffnet sich, wenn wir die Bedeutung und die<br />
Rolle der Schrift in der Novelle in die Interpretation einbeziehen.<br />
Der Auslöser der Ereignisse ist ein schriftliches Dokument, ein<br />
Passschein, den Kohlhaas vorweisen soll, den es aber gar nicht<br />
gibt. Diese vom Junker von Tronka frei erfundene schriftliche Verordnung<br />
ist der Ausgangspunkt des Unrechts an Kohlhaas. Alle<br />
folgenden Ereignisse werden durch die Schrift entweder ausgelöst,<br />
dokumentiert oder veröffentlicht.<br />
Kohlhaas sendet Beschwerdebriefe, Suppliken, Eingaben, um<br />
sein Recht zu erlangen. Er verfasst Inventarisierungen, Kaufkontrakte,<br />
Wertschätzungsgutachten und veröffentlicht während seines<br />
Fehdekrieges durch Mandate, Resolutionen und Plakate das<br />
ihm widerfahrene Unrecht, begründet sein Recht und legt sein<br />
Vorhaben offen. Als Antwort bekommt er nur schriftliche Rechtsverweigerungen<br />
aus Dresden und Berlin. Luthers Brief reißt ihn<br />
aus seinem Rachefeldzug heraus und führt wiederum zu einem<br />
Schreiben Luthers an den Kurfürsten von Sachsen, durch das<br />
Kohlhaas wieder ins Recht gesetzt wird. Dem folgt der Amnestiebeschluss<br />
des Kurfürsten von Sachsen. Der einzige (»als Finte gemeinte«)<br />
Brief Kohlhaas’ an den Aufrührer Nagelschmidt wird von<br />
der korrupten Staatsmacht unter Missachtung des Postgeheimnisses<br />
abgefangen und zum Vorwand genommen diese Amnestie<br />
zu brechen.<br />
So wird die Schrift in den Händen der weltlichen Machthaber zum<br />
Instrument, das nicht mehr Ordnung und Recht transportiert und<br />
damit Verlässlichkeit und Sicherung des Gemeinwohls, sondern<br />
das nur noch dem machtpolitischen Zweck-Nutzen-Mechanismus<br />
des einzelnen dient.<br />
Als Gegenpart zur weltlichen und patriarchalen Ordnungsmacht<br />
steht die Wahrsagerin, als Sybille, also Prophetin, bezeichnet; sie<br />
übergibt Kohlhaas die mit Kohle geschriebene Wahrheit in der<br />
Kapsel als Amulett. Am »seidenen Faden« hängt diese Wahrheit<br />
um Kohlhaas’ Hals. Mit dieser verkapselten Wahrsagung über das<br />
Schicksal des Hauses Sachsen gibt sie Kohlhaas ein intimes Wissen<br />
über seinen Widersacher in die Hand und damit eine Macht<br />
aus unerklärter Provenienz. Mit dieser Wahrsagung ist auch das<br />
Versprechen einer neuen Identität verbunden, denn sie soll ja<br />
»dermaleinst« Kohlhaas das Leben retten. Sie wird von einer Figur<br />
aus dem Volk, die den Namen und das körperliche Attribut (ein<br />
Mutter-Mal) der Frau von Kohlhaas hat, übermittelt. Es drängt<br />
sich die Schlussfolgerung auf, dass diese Macht matriarchal besetzt<br />
ist.<br />
Als die ›Zigeunerin‹ ihn im Gefängnis besucht, fordert sie ihn auf,<br />
diese Macht nun einzusetzen und den Zettel dem Kurfürsten von<br />
Sachsen »für Freiheit und Leben […] auszuliefern«. Kohlhaas lässt<br />
sich nicht von ihr dazu ›verführen‹, sich in die Hand des Kurfürsten<br />
von Sachsen zu geben und damit zu korrumpieren; er hätte<br />
mit diesem Tausch einen endgültigen Identitätsverlust erlitten.<br />
Dass die ›Zigeunerin‹ einen Apfel bei sich führt, den sie dem Kind<br />
gibt, eröffnet weitere Deutungsebenen (In vielen Mariendarstellungen<br />
reicht Maria dem Jesuskind einen Apfel. Desgleichen ist<br />
der Apfel aber Sinnbild für Verderben, Verführung, und auch Rettung,<br />
für menschliche Schuld und Sühne). Kleist sieht also die Lösung<br />
des Konflikts nicht darin, die patriarchale Ordnung mit einer<br />
matriarchalen zu ersetzen.<br />
Kohlhaas ist der einzige, der am Schluss die Wahrsagung liest,<br />
bevor er sie sich dann einverleibt. Mit dieser Einverleibung ist sozusagen<br />
›das Wort Fleisch geworden‹, d. h. es ist ein umgekehrter<br />
›Sündenfall‹ geschehen, indem Kohlhaas die Erkenntnis, die er<br />
durch die Schrift erlangt hat, verschlingt und mit in den Tod<br />
nimmt. Ganz im Sinne der Thesen aus dem »Marionettentheater«<br />
muss Kohlhaas »von hinten« in das verriegelte (verlorene) Paradies<br />
gelangen, also durch den Tod gehen, um in den Urzustand<br />
zurückzukehren und die Wahrheit zu erkennen. Kohlhaas hat also<br />
im Tode eine neue Identität erlangt.<br />
Die Funktion des Zufalls<br />
Abb. 3<br />
Martin Luther,<br />
Gemälde von<br />
Cranach d. Ä.,<br />
Tempera auf<br />
Buchenholz,<br />
1525<br />
© Bildarchiv Preußischer<br />
Kulturbesitz,<br />
Standort:<br />
Kunstmuseum<br />
Basel<br />
In diese Überlegungen zur Identitätsfragmentierung und -rekonstituierung<br />
muss die merkwürdige Häufung von Zufällen mit einbezogen<br />
werden. Diese Häufung (das ›Familiennetz‹ der Tronkas<br />
und Kallheims, der Blitzschlag in Ellabrunn, der epileptische Anfall<br />
des Boten des Nagelschmidt und die Wahl just der tatsächlichen<br />
Wahrsagerin als falscher, gekaufter Wahrsagerin, um hier<br />
nur einige zu nennen) werfen die Frage auf: steht zwischen Kohlhaas<br />
und der Rechtsordnung nur der Zufall, der die Eindeutigkeit<br />
verdunkelt und Gut und Böse verschränkt? Geschieht Gerechtigkeit<br />
nicht als Notwenigkeit, sondern durch Zufall – das bleibt in<br />
der Schwebe, es gibt keine eindeutige Antwort. Und somit ist auch<br />
die Frage nach einer übergeordneten Idee »Recht« nicht beantwortbar.<br />
Genauso ist auch der Erzählperspektive zu misstrauen: die scheinbar<br />
authentische Chronik ist eine Vortäuschung, die offensichtlich<br />
dauernd gebrochen wird. Der Erzähler wechselt in seiner Argumentation<br />
die Seiten, ihm ist also nicht habhaft zu werden,<br />
damit ist auch die Aussage der Novelle voller Ambiguitäten und<br />
fast endlos weiter deutbar.<br />
Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist<br />
Heft 53 · 2007