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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:02 Uhr Seite 47<br />

dem Friedhof erinnern an das Fahnenmeer im Schlusskapitel des<br />

Verschollenen. Die Struktur aber des Traums ist der Struktur des<br />

Prozess ähnlich. Auf den Einbruch des Befremdlichen in den Alltag<br />

folgen die Neugier und die Faszination Josef K.s durch das, was da<br />

als »Prozess« auf ihn zukommt; Die »Verlockung« durch den<br />

»frisch aufgeworfenen Grabhügel« repräsentiert die zahlreichen<br />

morbiden Verlockungen, denen sich Josef K. bei seiner Suche<br />

nach den Prozess-Instanzen ausgesetzt sieht. Immer glaubt er,<br />

»gar nicht eilig genug hinkommen zu können«. Dabei wird er in<br />

seinen Empfindungen unsicher: Ist er es, der sich bewegt, ist es<br />

der Boden unter ihm, der ihn wie eine Rolltreppe trägt? Das ist<br />

traum-symbolisch zu lesen für die erfahrene Desorientierung.<br />

Damit die Parallelen zum ganzen Roman handgreiflich werden,<br />

erscheinen zwei Figuren, die den Grabstein aufstellen. Sie erinnern<br />

an die Wächter, die Josef K. verhaften und die beiden »Tenöre«,<br />

die ihn zur Hinrichtung abholen. Und auch Titorelli ist da,<br />

nur diesmal als Bildhauer eingesetzt. Auch er wird in seinem Auftrag<br />

durch Ungeschicklichkeiten des Josef K. behindert, auch in<br />

der Interaktion mit ihm ereignet sich ein vom Träumer nicht nachzuvollziehendes<br />

Einverständnis, ganz so, wie es der »Weg« Josef<br />

K.s in dem Jahr nach seiner Verhaftung vollziehen wird. Im Ende-<br />

Kapitel sitzt der Verhaftete und erwartet seine Henker. Er ist verständigt,<br />

wo er zuerst überrascht war. Das ganze Traumgeschehen<br />

läuft auf das Einverständnis mit dem eigenen Tod und Abstieg in<br />

die Erde hinaus. Alles war vorbereitet, das Loch, in das Josef K.<br />

»von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht« hinabgleitet,<br />

ist präformiert als Gang in den Hades, aufgenommen in der<br />

Untergrundbahnfahrt, die den Verschollenen Karl Rossmann<br />

nach Clayton bringt. Seine Haltung ist die Rückenlage, in welche<br />

die beiden Henker ihr Opfer an den Opferstein im Steinbruch lehnen.<br />

Das »Entzücken«, das sein Verschwinden für ihn selbst hat,<br />

entspricht dem Einverständnis, das Josef K. mit seinen »Ende«<br />

nicht finden kann, wie ein Wunsch dem Versagen des Wunsches.<br />

Gerhard Neumann nannte die poetologische Struktur des Romans<br />

»Metamorphose« und ständiges Überschreiben der gleichen<br />

Grundkonstellation »riskanter Augenblicke«. Die Erzählung<br />

›Ein Traum‹ ist eine solche Umschrift der riskanten Augenblicke,<br />

die im Roman Verhaftung und Ende heißen.<br />

Abb 3 ›Vor dem Gesetz‹ von Carlo Chardé, 1983<br />

© Privatbesitz: Karlheinz Fingerhut<br />

47<br />

›Vor dem Gesetz‹<br />

Es hat sich im Laufe der Kafkaforschung herausgestellt, dass die<br />

spontanen Fragen: Wer ist der »Mann vom Lande« (der ›Jedermann‹<br />

oder der in der Thora ungebildete Mensch oder der von<br />

Sehnsucht Getriebene), wer oder was ist das »Gesetz« (die Gerechtigkeit,<br />

die Gnade, das Recht schlechthin) und wer ist der<br />

»Türhüter« (der alles verwehrende Vater, das Justizsystem) in den<br />

Strudel der unendlichen Deutungsmaschinerie hineinziehen. Also<br />

ist es sinnvoll, aus der Rolle des »Textdeutens« herauszutreten<br />

und auf anderen Wegen zu einem Ergebnis zu kommen. Zwei<br />

Wege werden nahe gelegt: Der Weg zurück zu den möglichen<br />

Quellen der Erzählung (I M5I) und der Weg über spontane Umsetzungen<br />

in die Sphäre der eigenen Phantasie, und zwar durch<br />

produktives Weiterdenken des Gelesenen (I M9I).<br />

Die Parabel wird vom Prozess-Geistlichen erzählt, um Josef K.<br />

eine Vorstellung von der »Täuschung«, in der er sich in Bezug auf<br />

das Gesetz befindet, zu vermitteln. Er benutzt dazu eine Szene,<br />

die an die Darstellung der menschlichen Seele, welche Zugang zu<br />

den himmlischen Gerichtshöfen sucht, erinnert. Die Erzählungen<br />

der Kabbalisten (I M5I) kennen das System der Gerichtssäle, vor<br />

denen Türhüter stehen, welche den Eintritt regeln. Diese Türhüter<br />

sind Engeln vergleichbar, sie gebieten über Helfer-Engel, sie<br />

selbst stehen in einer Hierarchie von Hütern, die Seele wird auf<br />

ihrem Weg nach oben immer wieder aufgehalten, geprüft und gerichtet.<br />

Das gesamte System der Gerichtshöfe ist äußerst kompliziert,<br />

auch von Licht und Lichtern ist die Rede, die einzelnen Hüter<br />

haben sprechende Namen. Der Grundgedanke ist, dass jede Seele<br />

in einen Prozess verwickelt ist, der von Station zu Station sich entfaltet,<br />

ganz wie ein alle Instanzen durchlaufender Prozess im bürgerlichen<br />

Alltag. Die kabbalistische Legende vom »Tor der Hallen«,<br />

von der man nicht einmal weiß, ob Kafka sie wirklich gekannt<br />

hat, enthält wesentliche Motive, die in der Prozess-Legende<br />

wiederkehren. Aber der Sinn der Legenden ist ein unterschiedlicher.<br />

Das »Tor der Hallen« wird erzählt, damit die Gläubigen sich<br />

eine Vorstellung vom göttlichen Gerechtigkeitssystem machen<br />

können: »und sie richten den Gerechten und den Schuldigen, zum<br />

Guten und zum Bösen«. Der Geistliche erzählt seine Legende hingegen,<br />

um Josef K. seine Täuschung über das Gericht klar zu machen.<br />

Insofern sind die Parallelen Teil eines Verwirrspiels. Ist es<br />

Erklärung oder Täuschung, dass der »Eingang nur für dich bestimmt«<br />

ist und geschlossen wird, wenn der Mensch ihn sich nicht<br />

erzwingt?<br />

In dieser Situation der mangelnden Übersicht über Struktur und<br />

Funktion der Parabel entstehen Deutungsbedürfnis und Korrekturbedürfnis<br />

gleichermaßen. Viele Leser sind mit dem »Ergebnis«<br />

der Geschichte nicht zufrieden, ganz so wie Josef K. selbst auch.<br />

Sie möchten ein anderes Ergebnis haben und überlegen, ob der<br />

Mann vom Lande den Eintritt in das Gesetz nicht doch hätte erschleichen<br />

oder erzwingen können. Die Phantasie funktioniert<br />

wie in einem Dilemma. Man sucht Auswege. Einer der Auswege ist<br />

das Umerzählen oder das produktive Lesen.<br />

Umsetzung im Unterricht<br />

In einem Grundkurs der Klasse 12 hieß die Produktionsaufgabe:<br />

»Nachdem Sie Kafkas ›Vor dem Gesetz‹ gelesen haben, fällt ihnen<br />

vielleicht eine eigene Variante der Parabel ein.« Die Ergebnisse<br />

Heft 53 · 2007<br />

Franz Kafkas Roman – Der Prozess

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