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deutschland & europa - lehrerfortbildung-gemeinschaftskunde ...

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Umbr_DuE53.qxd 10.04.2007 14:02 Uhr Seite 45<br />

Kafkas Schicksal als Schulklassiker –<br />

Spontane und gelenkte Rezeption von Kafkatexten<br />

bei Schülern und Schülerinnen<br />

Was eigentlich passiert bei der naiven Lektüre von Kafkas Erzählungen?<br />

Hermann Kinder und Heinz-Dieter Weber haben Leser- Äußerungen<br />

zu Kafkas ›Kleine Fabel‹ (I M1I) untersucht und dabei festgestellt,<br />

dass Texte, die »im einzelnen vertraut, im ganzen aber<br />

rätselhaft erscheinen«, eine besonders große Interpretationsvielfalt<br />

erzeugen. (Kinder/ Weber 1975, 229) Betrachtet man jedoch die<br />

aufgeführten Deutungen näher, so entdeckt man, dass von Vielfalt<br />

eigentlich nicht die Rede sein kann. Die Bedeutungsfülle reduziert<br />

sich sehr schnell auf die inhaltliche Variation weniger Muster.<br />

Katze und Maus stehen für stark und schwach, die Geschichte der<br />

Maus verweist auf allgemeine Lebenserfahrungen (»wir haben falsche<br />

Vorstellungen von Freiheit«; »das Leben ist eine Kette von<br />

Entscheidungen«; »das Lebenskonzept vieler Menschen basiert<br />

auf Selbsttäuschung«). Kafka regt zu allgemeinen moralischen<br />

Betrachtungen an (»man sollte nicht vergangenheits- oder zukunftsorientiert<br />

leben, sondern sich auf die Gegenwart konzentrieren«).<br />

Besonders Schüler im Alter von etwa 15 Jahren neigen zu<br />

einer allegorisch-moralischen Textauslegung: Die Katze stelle den<br />

Tod dar oder die Gesellschaft, die Maus den einzelnen Menschen,<br />

der Angst hat und mit einem Schock begreift, dass er seinem<br />

Schicksal nicht entgeht.<br />

Schullektüre ist also in der Spontanphase der Auflösung einer Metapher<br />

zu vergleichen. Unter dem gelesenen wird ein Sub-Text<br />

vermutet, zu dem man durch die metaphorische Lektüre vordringt.<br />

Analogien entscheiden über das Glücken der Suche nach<br />

dem, was der Dichter »eigentlich« hat sagen wollen. Je mehr Text-<br />

Elemente in dieses Übersetzen einbezogen werden können, desto<br />

überzeugender erscheint die Interpretation.<br />

Kafkas Prozess-Roman im Deutschunterricht neu<br />

lesen<br />

45<br />

Für die Besprechung des Kafkaschen Romans als Ganzschrift gibt<br />

es bereits eine Reihe von fachdidaktischen Vorschlägen (Emrich<br />

S. 77). Hier geht es um ergänzende Aspekte, die in der gegenwärtigen<br />

Diskussion um Kompetenzentwicklung und literarisches<br />

Textverstehen wichtig geworden sind: das »genaue Lesen« und die<br />

»produktive Lektüre«, die das Lesen mit dem Selber-Schreiben<br />

verbindet. Der erste Aspekt prüft Stilentscheidungen des Autors,<br />

schaut genau auf die schließlich gewählte Formulierungsvarianten,<br />

achtet auf die Erzählerperspektive: »Wer verantwortet diesen<br />

Satz?« Der andere Aspekt akzentuiert den Leser als aktiven Mitschöpfer<br />

des vom Text Verstandenen. Der Text im Kopf eines Lesers<br />

wird unterschieden von dem Textformular, das wie eine Partitur<br />

des zu Lesenden auf den Buchseiten steht. Beide Aspekte<br />

bilden die beiden Pole der Kompetenz des literarischen Lesens,<br />

die Fähigkeit, sich auf das einzulassen, was der Autor zu verstehen<br />

gibt und die Fähigkeit, dabei das eigene Interesse nicht zu vergessen<br />

und einzubringen, was der Leser davon verstehen will.<br />

Die Vorschläge konkretisieren in einem ersten Schritt Formen des<br />

genauen Lesens im ersten und letzten Kapitel des Romans, gehen<br />

dann auf die zwei kurzen Abschnitte ein, die Kafka als einzige aus<br />

dem Romanfragment selbst für die Veröffentlichung ausgesucht<br />

hat, nämlich die Erzählungen ›Ein Traum‹ und ›Vor dem Gesetz‹.<br />

Das Studium von Formulierungsvarianten im ersten<br />

und letzten Kapitel des Romans<br />

Die Beobachtung von Formulierungsvarianten, die der Autor ausprobiert<br />

und verwirft, laden dazu ein, sich den Schaffensvorgang<br />

intensiver vorzustellen, eventuell auch in der eigenen Phantasie<br />

die vom Autor verworfenen Schreibentscheidungen ein Stück weit<br />

zu verfolgen.<br />

Abb 2 Franz Kafka, Skizzen © AKG-images<br />

Der Autor als einer, der schreibend Probleme zu verarbeiten hat,<br />

wird für den Leser lebendiger, als er bei der einfachen, ungehinderten<br />

Lektüre erscheinen kann.<br />

Die Untersuchung fragt:<br />

– Warum hat sich Kafka an dieser Stelle für diesen Korrektureingriff<br />

entschieden? Waren es nur stilistische Gründe oder gibt<br />

es Hinweise darauf, dass Kafka auch inhaltlich verschiedene<br />

Möglichkeiten durchprobiert?<br />

– Was bringt es dem Leser, wenn er die Wege, die der Autor offensichtlich<br />

bewusst nicht gewählt hat, in der eigenen Phantasie<br />

ein Stück weit verfolgt? Kann er daraus Rückschlüsse auf<br />

auktoriale Leserlenkung innerhalb eines scheinbar personalen<br />

Erzählens ziehen?<br />

Gefangen oder verhaftet?<br />

Die Handschrift des Romananfangs zeigt eine bedeutende Formulierungsentscheidung.<br />

»War … gefangen« ändert Kafka – und<br />

zwar noch bevor er den nächsten Satz hinschreibt – in »wurde …<br />

verhaftet« (I M2I). Die erste, spontane Formulierung würde das<br />

Gefangensein Josef K.s als ein Faktum voraussetzen. Der Vorgang<br />

der Festnahme selbst könnte aber nicht beschrieben werden. Der<br />

Roman hätte also nur die sozialen und psychischen Folgen des Lebens<br />

als Gefangener thematisieren können.<br />

Die Umformulierung des ersten Satzes führt den Textanfang aus<br />

dem Erzählmodell der Verwandlung (Konstatierung des Befremdlichen<br />

als faktum brutum) hinaus und bereitet ein neues vor, näm-<br />

Heft 53 · 2007<br />

Franz Kafkas Roman – Der Prozess

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