Linda Clarke, Jörn Janssen Kosten zu sparen, ebenso wie von Arbeitnehmern, um Steuern und Sozialbeiträge zu hinterziehen. Der Arbeitnehmer wird individualisiert, sein eigener Unternehmer, ‚self-employed’. Organisch mit diesem Prozess der Auflösung des dauerhaften Arbeitsverhältnisses verbunden, erleben wir die Desintegration von Unternehmen in Betriebsteile, die nach Bedarf zu wechselnden Produktionsketten kombiniert werden und dabei kein festes Verhältnis zu einem Eigentümer mehr haben. Die Eigentümer sind zunehmend direkte oder indirekte Anteilseigner, die nicht einmal wissen, woran sie Anteil haben, geschweige denn, wen sie beschäftigen. Sie können infolgedessen auch keine Rolle als Arbeitgeber spielen. Der virtuelle Arbeitgeber ist entweder durch ‚Human Resource Management’ oder, als ausgelagerte Varianten, durch Arbeitsagenturen oder Arbeitskraft-Subunternehmer in beliebig verlängerbarer Kette vertreten. Dies ist der wachsende Sumpf halbkr<strong>im</strong>eller und wahrhaft kr<strong>im</strong>ineller Ausbeutung, die in einem rechtlosen Raum wuchert, weil bestehendes Arbeitsrecht allein für als solche identifizierbare Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnisse gemacht ist. Der Geltungsbereich des Arbeitsrechts bröckelt ab. In dem Maße, in dem Arbeitnehmer ebenso wie Arbeitgeber ihre Identität aufgeben, können sie auch nicht mehr kollektiv vertreten werden. Anders gesagt, der Kollektivvertrag verliert an Legit<strong>im</strong>ation ebenso wie an Ausdehnung. Umgekehrt verlieren die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer, wo sie sich überhaupt noch als solche verstehen können, ihr Interesse, sich als solche zu organisieren, was zu Mitgliederschwund bei Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften führt. Der zu beobachtenden Verfall der Geltung des Arbeitsrechts und der Kollektivverträge in allen Staaten Europas wird durch die sogenannten ‚Freizügigkeiten’ in der EU vielleicht verstärkt: indem verschiedene Arbeitsrechtsräume in einem offenen Markt in Konkurrenz zueinander tre- ten, können bestehende Rechte und Verträge untergraben werden. Daher die Forderung nach einem europäischen Rechtsrahmen. Aber die Freizügigkeiten sind nicht die Ursache des Verfalls. Daher stellt sich die Kernfrage nach dem Subjekt und den Inhalten dieses Rechtsrahmens. Wie wird der Arbeitnehmer definiert, dem eigentlich kein Arbeitgeber gegenüber steht? Dies ist keine linguistische Frage. Es ist gleichgültig, wie wir ihn nennen, es ist der Bürger oder die Bürgerin, der/die zu arbeiten bereit ist. Er/ Sie hat Rechte und Pflichten. Er/Sie hat das Recht auf Lebensbedingungen, die dem allgemeinen Niveau entsprechen, solange er/sie sich verpflichtet, seine/ihre Arbeit für den allgemeinen gesellschaftlichen Prozess der Ausbildung und Arbeit bereitzustellen. Arbeitslosigkeit kann es nicht geben, wohl aber den Fall, dass Arbeit nicht in Anspruch genommen wird und Ausbildung an deren Stelle tritt. Soziale Vorsorge ist überflüssig, da diese <strong>im</strong> Recht auf Unterhalt enthalten ist. Der wichtigste Teil des Arbeitsrechts ist, wie die Beschäftigung der Arbeit durch Arbeitslohn und Arbeitszeit differenziert geregelt und von wem die Bedingungen ausgehandelt und entschieden werden. Die Verteilungsmasse ist der gesellschaftliche Reichtum <strong>im</strong> Raum oder in Teilräumen und Sektoren des Arbeitsmarktes. Man könnte sich vielleicht vorstellen, dass die Vertreter der nicht-Arbeitsbereiten mit den Vertretern der Arbeitsbereiten verhandeln. Diese Überlegungen sollen nicht mehr und nicht weniger als strategische Leitlinien „für ein umfassendes europäisches Sozialmodell“ (ver.di) sein. Wir sagen damit nicht, dass bestehende Arbeitsrechte abgeschafft werden sollen, sondern, dass diese weiterhin geschützt, strategisch entwickelt und auf die Teile des Arbeitsmarktes ausgedehnt werden sollen, die aus dem Raum geltenden Rechts herausgefallen sind. Der erste wichtige Schritt ist die Definition des arbeitenden Bürgers oder der arbeitenden Bürgerin und die Best<strong>im</strong>mung des Raums, in 48
EU-Arbeitsrecht für den EU-Arbeitsmarkt dem sein/ihr Recht entwickelt werden soll. Es mag wohl sein, dass <strong>im</strong> Rahmen einer solchen Strategie die Wege je nach bestehendem Recht in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich sind, aber sie sollten auf ein gemeinsames Ziel gerichtet sein. Dazu müssen sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichten lassen. London, Mai 2007 49