utzräUmen ·~ - Hochschule für bildende Künste Hamburg
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Michel Foucault I Gerard Raulet<br />
Um welchen Preis sagt<br />
die Vernunft die Wahrheit?<br />
Ein Gespräch /Erster Tezl<br />
Wti· ve~ijfi!llth(h en hier den ersten Teil eines Gespriiclls,<br />
das Gerard Raulet mit Michel Foucault <strong>für</strong><br />
t!ieSpurenji'ihrte. Denzweüen Te1/, 1izclem es um die<br />
Rezeption Nietzrches, das Problem der Post-Modeme<br />
und subversive (>raxis geht, folgt 1it der kommenden<br />
Nummer. Die Ubersetzung attr dem r"ranz ifsischen<br />
besorgte Khosruw No.rratian.<br />
Raulet : Wie beginnen? Ich dachte an<br />
zwei Fragen: zunächst, was ist der Ursprung<br />
dessen, was ziemlich pauschal als<br />
Post-Strukturalismus bezeichnet wird? Eine<br />
banale Frage, die Ihnen hundertmal gestellt<br />
wurde. Aber sie ist vielleicht eine<br />
Möglichkeit zu beginnen und fiir das Ausland<br />
(BRD und USA) bedeutsam. Es gäbe<br />
eine andere Frage, und sie wäre nicht besser:<br />
wo sprechen wir in diesem Augenblick,<br />
welches ist der Ort der Unterhaltung; aber<br />
das ist wirklich keine gute Frage, es gilt besser<br />
abzuwarten, zu versuchen, sich in den<br />
Diskurs einzuschleichen ... Warum also<br />
nicht aiese Frage nach dem Post-Strukturalismus?<br />
Strukturalismus<br />
und Post -Strukturalismus:<br />
Aussichten<br />
Foucault: ln der Tat, wamm nicht diesen<br />
Term? Was den Strukturalismus betraf,<br />
so wußten weder die Träger dieser Bewegung<br />
noch jene, die freiwillig oder gewaltsam<br />
das Etikett des Strukturalisten erhielten,<br />
ganz genau, worum es sich dabei handelte.<br />
Wer die strukturale Methode in sehr<br />
bestimmten Bereichen wie der Linguistik<br />
oder der vergleichenden Mythologie praktizierte,<br />
wußte, daß das der Stmkturalismus<br />
war. Aber sobald man diese sehr bestimmten<br />
Bereiche überschritt, wußte niemand<br />
so recht, was das war. Ich bin nicht sicher,<br />
ob der Versuch sehr interessant w ~ire , das,<br />
was man zu jener Zeit Stmkturalismus<br />
nannte, zu redefinieren. Dagegen erschiene<br />
es mir interessant - und wenn ich dafi.ir<br />
Muße hätte, würde ich das gerne machen-,<br />
das formale Denken zu studieren, die verschiedenen<br />
Typen des Formalismus, die<br />
die abendländische Kultur während des<br />
ganzen 20. Jahrhunderts durchquert haben.<br />
Man denke an das ungewöhnliche Geschick<br />
des Formalismus in der Malerei, an<br />
22<br />
die formalen Untersuchungen in der Musik,<br />
an die Bedeutung des Formalismus in<br />
der Analyse der Folklore, der Sagenerzählungen,<br />
der Architektur, an die Anwendung<br />
einiger seiner Formen auf das theoretische<br />
Denken. Der Formalismus im allgemeinen<br />
ist wahrscheinlich eine der kraftvollsten<br />
und vielfaltigsten Strömungen im<br />
Europa des 20.Jahrhunderts gewesen. Ferner<br />
ist der Formalismus sehr oft Zuständen<br />
und selbst politischen Bewegungen verbunden<br />
gewesen, die gleichermaßen bestimmt<br />
wie jedesmal anregend waren. Die<br />
Beziehungen zwischen dem russischen<br />
Formalismus und der russischen Revolution<br />
müßten gewiß einer erneuten genauen<br />
Untersuchung unterzogen werden. Die<br />
Rolle des formalen Denkensund der formalen<br />
Kunst zu Beginn des 20.Jahrhunderts,<br />
ihr ideologischer Wert, ihre Bindungen an<br />
die verschiedenen politischen Bewegungen<br />
- all das wäre zu analysieren. Was mir<br />
an der sogenannten strukturalistischen Bewegung<br />
in Frankreich und in Westeuropa<br />
während der sechziger Jahre auffallt: sie<br />
war tatsächlich wie ein Echo der Bemühung<br />
gewisser Länder des Ostens und besonders<br />
der Tschechoslowakei um Befreiung<br />
vom dogmatischen Marxismus.<br />
Während in einem Land wie der Tschechoslowakei<br />
die alte Tradition des europäischen<br />
Formalismus der Vorkriegszeit wiederbelebt<br />
wurde - um 1955 oder in den<br />
sechziger Jahren -, hat man in ungefähr diesem<br />
Augenblick in Westeuropa den sogenannten<br />
Strukturalismus entstehen sehen,<br />
das heißt, wie ich glaube, eine neue Form,<br />
eine neue Modalität dieses Denkens, dieser<br />
forma listischen Untersuchung. So also<br />
würde ich das strukturalistische Phänomen<br />
einordnen - durch ihr Wiedereinsetzen in<br />
den großen Strom des formalen Denkens.<br />
Raulet: ln Westeuropa verfugte die<br />
BRD über die Kritische Theorie, um die<br />
Studentenbewegung zu denken, die viel<br />
früher als bei uns begonnen hatte (seit<br />
1964/ 65 hatte es eine gewisse universitäre<br />
Agitation gegeben). Es ist klar, daß es zwischen<br />
der Kritischen Theorie und der Studentenbewegung<br />
keine notwendigen Beziehungen<br />
mehr gibt. Vie lleicht hat die Studentenbewegung<br />
von der Kritischen<br />
Theorie einen eher instrumentellen Gebrauch<br />
gemacht. Sie hat dort Zuflucht gesucht.<br />
In derselben Weise gibt es vielleicht<br />
keine direkte Kausalität mehr zwischen<br />
dem Stmkturalismus und '68 . . .<br />
Foucault: Das ist richtig.<br />
Raulet: Aber würden Sie sagen wollen,<br />
daß der Stmkturalismus wie ein notwendiger<br />
Vorläufer gewesen ist?<br />
Foucault: Nein, nichts ist notwendig in<br />
dieser Ordnung der Ideen. Aber sehr, sehr<br />
grob kann man sagen, daß formalistische<br />
Kultur, Denken und Kunst im ersten Drittel<br />
des 20.Jahrhunderts im allgemeinen kritischen<br />
politischen Bewegungen - und<br />
selbst in gewissen Fällen revolutionärender<br />
Linken verbunden gewesen sind, und<br />
der Marxismus hat das alles verschleiert: er<br />
hat dem Formalismus in der Kunst und in<br />
der Theorie eine wütende Kritik gewidmet,<br />
die seit 1930 deutlich wurde. DreißigJahre<br />
später sehen Sie in einigen Ländern des<br />
Ostens und in Frankreich, wie Leute den<br />
dogmatischen Marxismus angreifen, indem<br />
sie Formen und Typen der Analyse<br />
benutzen, die offensichtlich durch den Formalismus<br />
inspiriert sind. Die Ereignisse in<br />
Frankreich und in anderen Ländern von '68<br />
sind gleichermaßen höchst anregend wie<br />
zweideutig; und zweideutigweil anregend:<br />
es handelt sich um Bewegungen, die oft eine<br />
deutliche Bezugnahme zum Marxismus<br />
erkennen ließen und zu gleicher Zeit den<br />
dogmatischen Marxismus von Parteien<br />
und Institutionen heftiger Kritik aussetzten.<br />
Und das Spiel zwischen einer gewissen<br />
nicht-marxistischen Form des Denkens<br />
und den marxistischen Referenzen schuf<br />
den Raum, in dem sich die studentischen<br />
Bewegungen entwickelt haben. Gelegentlich<br />
haben sie den revolutionären marxistischen<br />
Diskurs auf den Gipfel der Übertreibung<br />
gefuhrt; gleichzeitig waren sie oft von<br />
einem antidogmatischen Ungestüm beseelt,<br />
der jenem Diskurstyp widerspricht.<br />
Raulet: Ein antidogmatisches Ungestüm,<br />
das seine Bezugspunkte . ..<br />
Foucault: ... manchmal in einem übersteigerten<br />
Dogmatismus suchte.<br />
Raulet: An der Seite Freuds oder an der<br />
Seite des Strukturalismus.<br />
Foucault: So ist es. Ansonsten würde<br />
ich gern auf die Geschichte des Formalismus<br />
zurückkommen und die kleine stmk-