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utzräUmen ·~ - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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"Rotkäppchens _____________ Lust und Leid" .. 1 _ von So heißt Jack die Zipes<br />

heraus~egebene Anthologie, die neunzehn Versionen<br />

des meisterzählten Märchens in schön illustrierter<br />

Form umfaßt: angefangen von der als Originalschöpfung<br />

geltenden Fassung von Charles Perrault ( 1 697)<br />

über die der Brüder Grimm bis zu der von Ringelnatz<br />

und Angela Carther im 20.Jahrhundert. Es sind Kostbarkeiten<br />

und Köstlichkeiten aus Deutschland, Frankreich,<br />

Großbritannien, Irland und den USA- eine<br />

chinesische Rotkäppchen-Version ist auch dabei.<br />

Die Warn- und Schreckensmärchen<br />

um das kleine Mädchen<br />

mit der roten Mütze haben ihren<br />

Ursprung im Mittelalter und<br />

sind dort bezogen auf Werwolf­<br />

Prozesse, die- ähnlich den Hexenprozessen<br />

- inszeniert wurden<br />

: Insbesondere kleine Mädchen<br />

sollten sich <strong>für</strong>chten lernen<br />

vor Männern, die ihnen<br />

nachstellten, sie zu betatschen<br />

und sexuell zu mißbrauchen<br />

versuchten.<br />

ln den mündlich überlieferten<br />

Märchen gelingt es Rotkäppchen<br />

jedesmal, recht keck auf<br />

die eine oder andere Weise den<br />

Wolf zu überlisten und sich<br />

selbst in Sicherheit zu bringen.<br />

Diese und andere historische In ­<br />

formationen liefert Zipes in ei ­<br />

nem umfangreichen Einleitungs-Essay,<br />

der in den schriftlichen<br />

Märchenfassungen überlieferte<br />

Motive zu deuten hilft.<br />

Erklärungsmuster <strong>für</strong> die Fragen,<br />

warum .. Rotkäppchen" mal<br />

so und dann wieder völlig an ­<br />

ders erzählt wurde, sind bei Zipes<br />

nicht einseitig psychoanalytisch<br />

eingefärbt, sondern konkret<br />

an der jeweiligen Sozialgeschichte<br />

orientiert. Die Märchenversionen<br />

sind Spiegel der<br />

jeweiligen Auffassungen von<br />

Kindheit und Moral, insbesondere<br />

dem Kampf der Geschlechter<br />

um gesellschaftliche<br />

Rollen.<br />

War es im Mittelalter üblich, offen<br />

und mit mancherlei heute<br />

derb anmutenden Begriffen<br />

über Körper und Sexualität zu<br />

reden. und brauchte demzufolge<br />

das kleine selbständige<br />

Bauernmädchen in den alten<br />

mündlichen Überlieferungen<br />

nicht hilflos seiner Vergewaltigung<br />

preisgegeben werden, so<br />

ist Perraults Rotkäppchenbild<br />

von 1 697 ein völlig anderes.<br />

Als erstem Verfasser von Kinderbüchern<br />

<strong>für</strong> die bürgerlicharistokratische<br />

Oberschicht<br />

Frankreichs galt es ihm, die Natur<br />

des kleinen Mädchens im<br />

Sinne eines bereits männlich<br />

dominierten Zivilsisationsprozesses<br />

einzuengen : Rotkäppchen<br />

verkommt zum dümmlichen<br />

kleinen Mädchen, das vom<br />

Wolf gefressen wird; dem Wolf<br />

passiert gar nichts. Das Mädchen<br />

endet in der Moralitee:<br />

.. Man sieht hier, daß kleine Kinqer,<br />

vor allem kleine Mädchen,<br />

schön. wohlgeschaffen und<br />

brav.<br />

schlecht daran tun, gewissen<br />

Leuten zuzuhören<br />

und daß es nicht verwunderlich<br />

ist.<br />

wenn der Wolf so viele von ihnen<br />

frißt. ( ... )<br />

Es giQt auch solche (Wölfe). die<br />

schlau sind,<br />

sehr zurückhaltend, freundlich<br />

und sanft den jungen Damen<br />

folgen<br />

bis zu ihren Häusern, bis in die<br />

Gassen.<br />

Aber o weh ! Wer weiß nicht,<br />

daß diese sanften Wölfe<br />

von allen Wölfen die gefährlichsten<br />

sind."<br />

Im Vergleich mit der Märchenfassung<br />

von Perrault erscheint<br />

.. Rotkäppchen" bei den Gebrüdern<br />

Grimm im 1 8.Jahrhundert<br />

insbesondere durch das Happy­<br />

End entschärft, weniger gräßlich<br />

und dadurch weniger sexuell.<br />

ln biedermeierlicher Manier<br />

kommt ein guter Jägersmann<br />

daher, der die Großmutter<br />

und Rotkäppchen aus dem<br />

Bauch des Wolfes rettet und<br />

den Wolf tötet. Das noch niedlichere<br />

und naivere deutsche<br />

Rotkäppchen muß noch ein<br />

zweites Mal einem Wolf begegnen<br />

- es wird dann da<strong>für</strong> belohnt,<br />

weil es nicht auf ihn eingegangen<br />

ist. Entsprechend den<br />

geforderten gesellschaftlichen<br />

Normen hat es seine Sexualität<br />

zu beherrschen gelernt.<br />

Abgesehen von einigen wenigen<br />

Rotkäppchen-Parodien im<br />

19.Jahrhundert entstanden erst<br />

mit der organisierten Arbeiterund<br />

Frauenbewegung in der<br />

Zeit zwischen den beiden Weitkriegen<br />

witzige und aufsässige<br />

Rotkäppchen-Gestalten, die<br />

sich selbst zu wehren wissen,<br />

die entweder dem Wolf tätlich<br />

zu Leibe rücken oder ihn durch<br />

Heirat bezähmen. Unter den bei<br />

Zipes versammelten Rotkäppchen-Versionen<br />

des 20.Jahrhunderts<br />

finden sich auch solche,<br />

die eine ideologische Inanspruchnahme<br />

des Märchens dokumentieren;<br />

so etwa die chinesische<br />

Fassung, die statt des<br />

Wolfes den Bären (Symbolfigur<br />

Jack Zipes (Hrsg.): Rotkäppchens Lust und Leid.<br />

Die Biographie eines europäischen Märchens.<br />

Diederichs-Verlag, 256 5., DM 29, 80<br />

54<br />

<strong>für</strong> Rußland auftreten läßt; oder<br />

eine faschistische Version um<br />

ein BDM-Mädel, die Zipes im<br />

Kleingedruckten der Einleitung<br />

wiedergibt.<br />

Zipes beabsichtigt mit seiner<br />

Anthologie, Märchen-Vergangenheit<br />

zu vergegenwärtigen,<br />

die Bedeutung der jeweils literarisch<br />

ausformulierten Version<br />

des Verhältnisses Rotkäppchen<br />

und Wolf zu erklären und somit<br />

Anregungen <strong>für</strong> künftige Märchenarbeit<br />

zu geben. Solange<br />

Frauen sich mit Trillerpfeifen<br />

vor Gewalttätigkeiten einiger<br />

Männer schützen müssen - Zi ­<br />

pes berichtet von dieser Gepflogenheit<br />

an der Universität in<br />

Milwaukee, wo er als Professor<br />

<strong>für</strong> Germanistik lehrt- und solange<br />

Männer noch nicht begriffen<br />

haben, daß sie weder gute<br />

Jäger noch Wölfe zu sein brauchen,<br />

scheint das Märchen vom<br />

Rotkäppchen in seiner Bedeutung<br />

auch <strong>für</strong> uns heute noch<br />

aktuell.<br />

Reni Kogel, Bremen<br />

Das Leben mit Kindern<br />

mag Glück und Last sein<br />

Vor allem aber ist es zum Problem<br />

geworden. Wir schenken<br />

dem Neugeborenen einen Greifling<br />

und seiner Mutter ein Buch<br />

bgegen die Unsicherheit: wie zu<br />

wickeln, wie zu füttern. wie zu<br />

lieben sei. Denn nichts ist mehr<br />

selbstverständlich : mit Märchen<br />

- ohne Märchen; im Bett der Ei ­<br />

tern oder im eigenen Zimmer;<br />

von warmer Reflektiertheit oder<br />

nachdenklicher Spontaneität;<br />

bedürfnisorientiert (aber was<br />

sind die Bedürfnisse,) oder re ­<br />

gelgeleitet (aber nach welchen<br />

Regeln)? ; wie im ersten, zwei ­<br />

ten, dritten, was im vierten,<br />

fünften, sechsten Jahr? Es ist<br />

<strong>für</strong> alles gesorgt. Die Ratgeber<br />

sind so zahlreich, weil die Weisen<br />

so wenige geworden sind.<br />

Der Weise aber gibt keinen<br />

.. Ratschlag"; er sagt dem, der<br />

nicht weiß, wo es langgeht. mitunter<br />

etwas autoritativ, .. wie es<br />

ist". Und vorzugsweise erzählt<br />

er ihm eine Geschichte.<br />

Worin besteht eigentlich genau<br />

die Belastung, unter der so viele<br />

Mütter stöhnen, zerbrechen,<br />

nervös und unleidlich<br />

werden?- so lautet die Frage,<br />

die Barbara Sichtermann eine<br />

fiktive Freundin stellen läßt.<br />

Und sie gibt die Antwort in ihrem<br />

Buch .. Vorsicht, Kind", einem<br />

Buch (dies vorweg), das<br />

ein Ratgeber ist und doch viel<br />

mehr: Erzählung, Analye, Erfahrungsbericht,<br />

von leiser Radikalität<br />

ebenso getragen wie von<br />

subtiler Beobachtungsgabe.<br />

Es geht hier um das Leben mit<br />

Ein - bis Dreijährigen: mit den<br />

Kindern also, die entwöhnt sind<br />

und sich nun daran machen, die<br />

Weit zu entdecken. Eine .. Arbeitsplatzbeschreibung"<br />

hat<br />

die Autorin ihr Buch <strong>für</strong> .. Mütter,<br />

Väter und andere" genannt;<br />

und sie führt vor, wie die Kin ­<br />

derstube zuallererst ein Arbeitsplatz<br />

ist, der ein hohes<br />

Maß an körperlicher Anstrengung<br />

abverlangt. An diesem<br />

.. Arbeitsplatz" arbeiten oft genug<br />

zwei gegeneinander und<br />

nach verschiedenen Prinzipien :<br />

Das Kind .. als Forscher" und die<br />

Erwachsenen als .. Laborassistenten".<br />

Das ist nur einer der<br />

vielen Erkenntnisblitze. mit denen<br />

Barbara Sichtermann die<br />

Kinderstube erleuchtet. Unmerklich<br />

wird man hineingezogen;<br />

und viel ist gewonnen, wenn<br />

man versteht, daß der Einjährige,<br />

der dreißigmal seinen<br />

Schnuller hinter das Sofa wirft.<br />

sich keinesfalls als .,Quälgeist"<br />

begreift, sondern daß er eine<br />

Art .. verrückter kleiner Professor"<br />

ist. der Höhlenforschung<br />

betreibt, nebenbei das Fallgesetz<br />

experimentell überprüft<br />

und obendrein die Loyalität der<br />

Mutter.<br />

ln zwei Kapiteln über .. Unterbrechung,<br />

Aufschub und<br />

Gleichzeitigkeit" und über<br />

.. Vergeblichkeit. Wiederholung<br />

und Langeweile" untersucht<br />

und erzählt die Autorin, warum<br />

es so anstrengend ist, den Verführungen<br />

dieser Kinderweit zu<br />

folgen: weil das .. äußere Organ"<br />

des kleinen Welteroberers<br />

eben zugleich ein Erwachsener<br />

ist. der in .. erwachsenen" Zei ­<br />

thorizonten, Handlungsspannen<br />

und Erwartungen lebt.<br />

Gleichzeitig als Gehilfe eines<br />

Dreijährigen die Geheimnisse<br />

des Teekessels zu erkunden;<br />

ein Auge darauf zu haben, daß<br />

er dabei nicht vom Küchenhokker<br />

fällt; und außerdem noch<br />

(<strong>für</strong> sich) Teewasser zu kochen,<br />

d.h. den Kessel irgendwann auf<br />

die Platte zu bringen. ohne daß<br />

das Kind dabei vor allem lernt,<br />

daß seine .. Hilfe" unerwünscht<br />

ist- das bedroht die Konsi ­<br />

stenz der eigenen Person.<br />

Wer sich dem aussetzt, der lebt<br />

einige Jahre ein Doppel-, ein<br />

Dreifach-Leben : aber wer es<br />

schafft, den Grenzverkehr zwischen<br />

den beiden Reichen -<br />

diesem Hier und Jetzt des Kindes<br />

und den weiter gespannten<br />

Erwachsenenhorizonten -zu li ­<br />

beralisieren, der wird, indem er<br />

Zeit verliert, anderes gewinnen :<br />

.. Das Aufgeschobene oder ganz<br />

Geopferte erzählt den Erwachsenen<br />

ein Stück Geschichte ihrer<br />

eigenen, vielleicht nicht immer<br />

bewußten Neigungen."<br />

Zuerst, heißt das, wird das<br />

Überflüssige geopfert; und<br />

vielleicht sogar schrumpft dabei<br />

der Kultus des Zuendebringens,<br />

der Ordnung, der Erwachsenen<br />

.. freuden" zu Kultur.<br />

Die Kapitel des Buches- ganz<br />

en passant, fast ohne es zu<br />

merken, hat man einen Kursus<br />

Barbara 5ichtermann: Vorsicht, Kind. Eine Arbeitsplatzbeschreibung<br />

<strong>für</strong> Mütter, Väter und<br />

andere. Wagenbachs Taschenbücherei 87. Berlin<br />

1982. 232 5. DM 11.-

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