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utzräUmen ·~ - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Das Schweigen der Mehrheit<br />

Anmerkungen zur" Volksziihlung"<br />

V or einigen Jahren entwarf der damalige<br />

BKA-ChefHorst Herold eine überraschende<br />

Vision: die Polizei der Zukunft<br />

werde die Funktion eines kollektiven Sozialwissenschaftlers<br />

und Sozialingenieurs<br />

übernehmen. "Ich sehe die Hauptaufgabe<br />

des BKA darin, das in riesigen Mengen angehäufte<br />

Tatsachenmaterial zu allen abseitigen,<br />

abweichenden Verhaltensweisen<br />

forschend zu durchdringen ..."<br />

Eine Technologie vorausgesetzt, die<br />

jede Faser des Alltagslebens mit elektronischen<br />

Systemen zur Erfassung, Verarbeitung,<br />

Speicherung und Zirkulation von<br />

Daten überspinnt, bekommt diese Vision<br />

Realitätsgehalt. Denn werden die elektronischen<br />

Systeme der Registration, der<br />

Überwachung und Verfolgung gleichsam<br />

ins capital fixe der Gesellschaft eingeschrieben,<br />

so wird auch die traditionelle Polizei<br />

überflüssig: nicht länger wäre sie eine abgehobene<br />

Körperschaft des Staatswesens, die<br />

der Mehrheit der Bürger gegenübersteht,<br />

sondern aufgelöst und allgegenwärtig, eine<br />

Dimension des Realen selbst.<br />

Doch gehört es zu den Paradoxa, in denen<br />

die Systeme der politischen Repräsentationen<br />

und Bürokratien sich damit bewegen,<br />

daß die "Mehrheit" unter diesen Voraussetzungen<br />

auch keine "schweigende"<br />

mehr wäre. Der utopische Bürger Herolds,<br />

jener Bürger, an den sich auch die Statistiker<br />

der "Volkszählung" in diesem Frühjahr<br />

wenden wollen, ist der stets abgefragte und<br />

stets antwortende Bürger, dem die Schutzzone<br />

seines Schweigens genommen wurde.<br />

Dabei haben die Apparate, die gegenwärtig<br />

die "Volkszählung" vorbereiten, ein<br />

sicheres Gespür fiir die Schwierigkeit, diese<br />

Schutzzone einzuebnen: durch hohe Strafandrohungen<br />

schon im Vorfeld der statistischen<br />

Erhebungwollen sie verhindern, daß<br />

sich die Bürger ihrem Zugriff entziehen; bis<br />

zu DM 10.000.- soll zahlen, wer die Auskunft<br />

verweigert, auch kann Erzwingungshaft<br />

angeordnet werden. In München sind<br />

bereits Prämien ausgesetzt worden, die erhält,<br />

wer einen "nicht ordnungsgemäß Gemeldeten",<br />

Deutschen oder Ausländer, anzeigt-<br />

eine Welle der Denunziation wird<br />

gegen die Verstocktheit und Verschwiegenheit<br />

des "kleinen", des alltäglichen Lebens<br />

herausgefordert.<br />

Stellt das "Schweigen der Mehrheit" also<br />

eine Kraft dar, die fähig wäre, die neuen<br />

Dispositionen des Politischen, der statistischen<br />

Erhebung und der Kontrolle auch<br />

durchkreuzen zu helfen?- Wo bisher auf<br />

die "schweigende Mehrheit" verwiesen<br />

wurde, da stets zur Rechtfertigung des Bestehenden.<br />

Wer schweigt, so lautet die<br />

Apologie, erteilt damit seine Zustimmung,<br />

seine Einwilligung; erst wo Kritik laut wird,<br />

offenbart sich der Dissens. Stets waren sich<br />

daher Politiker - der "Rechten" wie der<br />

"Linken" - darin einig, daß zur Sprache<br />

kommen müsse, was der Fall sei, und zwar<br />

zur Sprache der Politik, der Repräsentation.<br />

Diente dabei den einen der Verweis auf das<br />

Schweigen der Mehrheit als Indiz ungeteilter<br />

Zustimmung ("die Mehrheit schweigtdenn<br />

in unserer Sprache findet sie bereits<br />

ihren Ausdruck"), so den anderen als Beleg<br />

des noch nicht aufgebrochenen Zusammenhangs<br />

der Manipulation und Verblendung<br />

("die Mehrheit schweigt- aber in unserer<br />

Sprache findet sie ihren wahren und<br />

daher zukünftigen Ausdruck"). Stets legitimierte<br />

sich im Schweigen die jeweilige Politik<br />

des Sprechers.<br />

Doch es gibt auch ein anderes Schweigen,<br />

das in der Sprache der politischen Repräsentation<br />

nie seinen Ausdruck wird finden<br />

können; eines der "abseitigen, abweichenden<br />

Verhaltensweise" (Herold). Ein<br />

"minoritäres Schweigen" (Lyotard), in dem<br />

sich weder Zustimmung noch Verblendung<br />

mitteilen, sondern der Eigensinn des<br />

Alltäglichen, ein Eigensinn, der sich den<br />

Ordnungen und Teleologien der Politik,<br />

den Sprachregelungen der Bürokratien<br />

entzieht. Jenes Stillschweigen, unter dem<br />

sich die vielen kleinen Übertretungen der<br />

Ordnung vollziehen, die Tricks und Finessen<br />

des alltäglichen Lebens, mit denen, wie<br />

es in Köln heißt, man "sich durchmaggelt".<br />

Das Spiel mit mehreren Wohnsitzen etwa,<br />

in dem das Finanzamt der Dumme bleibt<br />

und Behörden ins Leere stoßen. Oder die<br />

um Abgaben, Versicherungen, Vorschriften<br />

und Tarife unbekümmerte Schwarzarbeit,<br />

die sich von der legalen Zirkulation der<br />

Güter und Dienstleistungen unabhängig<br />

gemacht hat und ein Zubrot einbringt; die<br />

geschminkte Lohnsteuererklärung, deren<br />

Autor auf die Erfordernisse staatlicher Ausgabenpolitik<br />

pfeift. Ein Schweigen also, in<br />

das sich die alltäglichen Versuche einhüllen,<br />

zurechtzukommen, sich durchzuschlagen,<br />

die Apparate auszutricksen, den Demütigungen<br />

zu entgehen, die jede "Anerkennung"<br />

als Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-Empfänger<br />

bereitet. All dies vollzieht<br />

sich schweigend, bald in bitterer, bald<br />

in fröhlicher Verantwortungslosigkeit gegen<br />

die Zwecke des Staates und der Ordnungen,<br />

rücksichtslos gegen den Investitionsfluß<br />

des Kapitals und öffentlicher Gelder,<br />

gegen das allgemeine Regime der<br />

Sparsamkeit und Beschränkung, der Rüstungs-<br />

und Investitionsprogramme. In romanischen<br />

Ländern, vor allem Italien, ist<br />

diese Kultur des Stillschweigens ungleich<br />

ausgeprägter, das Leben daher auch ebenso<br />

intensiver, näher, lauter. Doch auch im<br />

deutschen Alltag haben sich genug solcher<br />

,,Nischen" erhalten, und sie entstehen, wo<br />

die Ordnung des Ganzen sich in der "allgemeinen<br />

Krise" zersetzt, täglich neu: man<br />

pfeift auf die Zentren der Ordnung, "man<br />

durchlebt die 'Krise', ohne niedergeschlagen<br />

zu sein oder sich zu empören, ohne<br />

dem Gerede von der Katastrophe Glauben<br />

zu schenken" (Lyotard). (Und daher fUrchten<br />

eben dies die Politiker. Helmut Kohl,<br />

der wie Horst Herold zu den Theoretikern<br />

in dieser Republik zählt, beklagte vor Jahr<br />

und Tag: die Studentenbewegung von<br />

1968 habe sich wenigstens noch kntisch auf<br />

diesen Staat bezogen; jetzt dagegen habe<br />

man mit einem größerem Problem zu<br />

kämpfen, der stummen Abkehr.)<br />

Die fiir das Frühjahr geplante "Volkszählung"<br />

ist eine Strategie, die dieses unkritisch-Minoritäre,<br />

das Verborgene, Verschwiegene<br />

des Alltäglichen auslöschen,<br />

das Unberechenbare kalkulierbarer machen<br />

und die Voraussetzungen einer<br />

euorganisation des capital fixe schaffen<br />

soll. Diese statistische Erhebung steht im<br />

Zeichen der "Krise", der ökonomischen, sozialen,<br />

kulturellen und ökologischen, und<br />

das heißt: im Zeichen des Verlusts eines<br />

übergreifenden gesellschaftlichen Telos,<br />

einer Perspektive oder Refereriz, die das<br />

Ganze neu zu ordnen möglich machen<br />

würde. Nicht zufällig geht die statistische<br />

Erhebung mit den Versuchen der Politiker<br />

einher, in den "Grundwerten", der "geistigmoralischen<br />

Erneuerung" verlorenen Boden<br />

wiederzugewinnen - oder in der "Natur".<br />

Auch der ökologische Naturbegriffist<br />

eben keineswegs frei von Versuchen, einer<br />

nihilistisch aus den Fugen geratenen Gesellschaftsordnung<br />

neue und stabilisierende<br />

Leitlinien zu injizieren, die als künftiger<br />

Bezugspunkt von Planung, Lenkung und<br />

Verwaltung dienen sollen. HEU-Pressesprecher<br />

Gerd Billen: "Wir sind nicht generell<br />

gegen Volkszählung und sehen durchaus<br />

den Sinn dieser fiir die Planung notwendigen<br />

Zählung." Auch die ökologische<br />

Gesamtperspektive einer Krisenbewältigung<br />

bedarf der Invesititions- und Kostenrechnung;<br />

und es bleibt abzuwarten, ob<br />

sich dabei nicht gerade u~gekehrt herausstellt,<br />

daß das System der Okologie bedarf,<br />

um zu einem geordneten Gang zurückzufinden.<br />

Das "Abseitige", "Abweichende", das<br />

Minoritäre und Unbekümmerte indes wird<br />

sich nicht verschachern lassen(auch nicht<br />

von Linken oder Ökologen, die sich in die<br />

Repräsentativsysteme der Realpolitik begeben<br />

haben), denn es gehört der politischen<br />

Ordnung überhaupt nicht an. Und<br />

daher könnten Politiker und Statistiker<br />

demnächst die Erfahrung machen, daß jenes<br />

Schweigen, auf das sie sich stets beriefen,<br />

um ihre Politik zu rechtfertigen, ihre<br />

neuesten Dispositionen der Befragung und<br />

des Verhörs durchkreuzt. Jedenfalls, was<br />

mzch angeht, so werde ich den Volkszählern<br />

gegenüber einbekennen, zur schweigenden<br />

Mehrheit zu gehören.<br />

Ham-Joachzm Lenger<br />

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