Akt 2 - Anduin
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Akt 2 - Anduin
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Er erinnerte sich an das graue Gesicht des alten<br />
Mannes, als ihn die Wachen weggeführt hatten, um ihn<br />
in den Schuldturm zu werfen. Marcellus, damals noch<br />
Landvogt im Dienste des Gouverneurs von Berida,<br />
hatte keinen weiteren Blick an ihn verschwendet. So<br />
wollte es das Gesetz: Steuer, Zwangsarbeit oder Turm.<br />
Und er, Marcellus von Orthak, war das Gesetz in<br />
diesem abgelegenen Teil von Berida, den seine<br />
Familie ihr eigen nennen durfte. Ein Landstrich,<br />
der von einstigem Wohlstand zur Armutsgrenze<br />
abgesunken war, als die Minen kein Erz mehr förderten.<br />
Für die Orthaks der letzte Schlag in einer Reihe von<br />
Schicksalschlägen, der sie von der politischen nun<br />
auch in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit stürzte.<br />
Fernab von Resna, dem Zentrum des Reiches, blieben<br />
ihnen die Hallen der Macht verschlossen. Er, Marcellus,<br />
war der letzte einer einst ruhmreichen Familie, deren<br />
Vorfahren mitgeholfen hatten, das Joch der einstigen<br />
Unterdrücker abzuschütteln. Doch vom Ruhm war<br />
nichts geblieben als Erinnerung.<br />
Sorgsam hatte Marcellus das Haus des Alten nach<br />
Verstecken durchsucht. Sie hatten immer Verstecke.<br />
Verbargen ihr Geld und gaben vor nichts zu haben. „Ein<br />
schlechtes Jahr, Herr. Habt Einsehen.“ Ha! Platz hatte er,<br />
Platz in den Verliesen von Burg Orthak – genug Platz für<br />
alle, die ihn zum Besten halten wollten.<br />
Da, da war es – ein loses Bodenbrett! Triumphierend<br />
hatte er die lose Planke weggerissen, nur um gleich<br />
darauf dümmlich auf ein ledergebundenes Buch zu<br />
blicken. Wer wollte denn ein Buch verstecken? Neugierig<br />
überflog er die mit steiler Handschrift bedeckten Seiten.<br />
Seltsame Eintragungen, merkwürdig... bestimmt das<br />
Produkt eines kranken Geistes. Das war es – der Alte<br />
war verrückt! Trotzdem nahm Marcellus das Buch mit.<br />
Er ahnte nicht, dass von diesem Augenblick an sein<br />
Leben nie wieder so sein würde wie vorher.<br />
Nach dem Abendessen begann Marcellus das Buch<br />
zu studieren. Immerhin seltsam genug, dass der Alte<br />
überhaupt lesen und schreiben konnte. Es enthielt<br />
eine Art Tagebuch sowie lange Reihen von Formeln<br />
abstrusester Natur. Wahrscheinlich war der Alte wirklich<br />
verrückt gewesen, wenn er diesen Unsinn schrieb:<br />
Anleitungen, wie man mit der Kraft seines Willens<br />
Feuer entfachen und durch Wände gehen konnte –<br />
Schwachsinn! Nur zu gern hätte er den Alten ins Verhör<br />
genommen, doch der hatte es irgendwie geschafft,<br />
seinen Soldaten zu entwischen und wegzurennen; eine<br />
der Wachen hatte ihn dann in ihrem Übereifer mit einem<br />
Armbrustbolzen gefällt. Marcellus hatte den Mann<br />
seinen Unmut spüren lassen; anschließend hatte er einen<br />
Moment lang erwogen, die Leiche zur Abschreckung auf<br />
dem Marktplatz auszustellen, dieses aber sofort wieder<br />
verworfen; stattdessen hatte er den Körper irgendwo<br />
verscharren lassen; wozu schlafende Hunde wecken.<br />
Marcellus’ erster Impuls war es, das Buch<br />
wegzuwerfen, doch irgend etwas verlockte ihn dazu,<br />
weiterzulesen. Da stand, jeder könne diese Kräfte<br />
beschwören, könne die Wirklichkeit vorübergehend<br />
verändern, wenn er nur die Formeln kannte und sein<br />
Wille stark genug war. Und wer wollte verneinen,<br />
dass er, Marcellus, einen starken Willen hatte? Hatte<br />
ihn dieser Wille, der brennende Wunsch, den Namen<br />
seiner Familie zu neuer Größe zu führen, nicht alles<br />
ertragen lassen – den frühen Tod seiner Eltern, die<br />
knappen Mittel, die von Jahr zu Jahr weiter schwanden,<br />
die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit? Wenn jemand<br />
einen starken Willen hatte, dann er – Marcellus von<br />
Orthak. Auf alle Fälle stärker als der des alten Mannes.<br />
Er würde beweisen, dass der Alte irre gewesen war;<br />
er würde diese Formel aussprechen, er würde sich<br />
mit aller Macht ein Ergebnis herbeiwünschen, und<br />
nichts würde geschehen – weil so etwas gar nicht<br />
geschehen konnte. Dann würde er lachend das Buch<br />
verbrennen.<br />
Und so las Marcellus von Orthak die Worte<br />
von den rissigen Seiten, vollführte die bezeichneten<br />
Gesten und beschwor das elementare Feuer von<br />
einem Ort jenseits dessen, was er als Wirklichkeit<br />
kannte. Bleich starrte er in die Flammen, die vor ihm<br />
einige Augenblicke auf dem Steinboden tanzten, bevor<br />
sie spurlos verschwanden. Endlich löste sich seine<br />
Erstarrung, und mit einem wilden Gefühl des Triumphs<br />
erkannte Marcellus, dass ihm endlich der Schlüssel zur<br />
Macht in die Hände gefallen war, den er sein ganzes<br />
Leben lang gesucht hatte.<br />
Von da an widmete er jeden freien Augenblick dem<br />
Studium des Buches. Stunde um Stunde brütete er über<br />
den Formeln, bis seine Augen vor Anstrengung brannten.<br />
Immer wieder übte er die Formeln, bis es ihm schließlich<br />
gelang, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Die<br />
Worte und Gesten allein waren wirkungslos, das merkte<br />
er bald – sie dienten lediglich dazu, dem Geist den Weg<br />
zu weisen. Der Geist allein war es, der die elementaren<br />
Kräfte beschwor, um die Wirklichkeit nach seinem Willen<br />
neu zu gestalten. Doch ihm waren enge Grenzen gesetzt:<br />
Marcellus musste bald erkennen, dass die benötigte<br />
Willensanstrengung mit der Größe der gewünschten<br />
Veränderung drastisch zunahm; so stark, dass massive<br />
Eingriffe in das Gewebe der Wirklichkeit fast unmöglich,<br />
ja sogar gefährlich waren; denn die beschworenen<br />
Kräfte konnten sich auch gegen den Beschwörer selbst<br />
wenden, wie Marcellus schmerzlich erfahren musste:<br />
Mehrmals litt er nach einem fehlgeschlagenen Versuch<br />
unter bohrenden Kopfschmerzen; einmal erblindete<br />
er sogar für kurze Zeit. Die bangen Minuten, bis sein<br />
Sehvermögen zurückkehrte, zählten zu den schlimmsten<br />
seines Lebens. Von da an beschränkte er sich auf die<br />
einfacheren Sprüche.<br />
Es war Magie, Hexerei, Schwarzkunst, womit er sich<br />
beschäftigte, das hatte er gleich herausgefunden. Ein<br />
Vergehen, das seinen Tod zur Folge haben würde, sollte<br />
es jemals herauskommen. Doch wer sollte ihn verraten?<br />
Die Wachen betraten seine Gemächer nie, nur der alte<br />
Ephraim, der seiner Familie schon seit frühester Jugend<br />
Rubriken Lesen & Spielen Abenteuer Prosa, Lyrik & Comics Rezensionen<br />
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