09.11.2012 Aufrufe

Akt 2 - Anduin

Akt 2 - Anduin

Akt 2 - Anduin

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

diente, und die Dienerinnen, die weder lesen noch<br />

schreiben konnten. Außerdem verbarg er das Buch<br />

hinter seinem Bücherbord, wenn er nicht studierte. Die<br />

ganze Aufregung um Hexerei war doch nur die Mißgunst<br />

derjenigen, die nicht willensstark genug waren, um<br />

Magie zu wirken, und die Angst der Mächtigen, dass<br />

Magie gegen sie eingesetzt werden könnten. Dabei<br />

war sie so ein treffliches Werkzeug.<br />

Dennoch war Marcellus klar, dass er seine neue<br />

Gabe sehr vorsichtig einsetzen musste. Nützlich war<br />

sie zweifellos: Ritt er zu den Bauern hinaus, um den<br />

Zehnten einzutreiben, so lauschte er ihren Märchen<br />

vom kargen Boden, dem schlechten Wetter und tat so,<br />

als ob er ihnen glaubte. Als sie dann glaubten, er habe<br />

ihren Hof verlassen, kam er heimlich zurück, spähte<br />

sie durch ein Fenster aus und warf einen Blick in ihren<br />

Geist. Einige hatten tatsächlich die Wahrheit gesagt,<br />

aber fast alle hatten irgendwo ein geheimes Versteck.<br />

Dann klopfte er erneut an ihre Tür, tat so, als sei ihm<br />

noch etwas eingefallen, und ließ sich den Hof zeigen –<br />

und zwar alles. Oh, ihre lächerliche Versuche, ihn in die<br />

falsche Richtung zu locken. Oh, ihre Nervosität, wenn<br />

er dem Versteck zu nahe kam. Und erst ihre entsetzten<br />

Gesichter, wenn er es dann „zufällig“ fand. Wie hatte<br />

er sich zeitweise auf die Lippen beißen müssen, um ein<br />

Lachen zu unterdrücken!<br />

Magie war Macht, und Marcellus setzte alles daran,<br />

um so mächtig wie möglich zu werden. Er hatte keine<br />

Zeit mehr, Freunde zu besuchen oder auf die Jagd<br />

zu reiten, das war nur unnötige Zeitverschwendung.<br />

Selbst seine Amtsgeschäfte empfand er zunehmend als<br />

Belastung und erledigte sie mit spürbarer Gereiztheit.<br />

Seine Diener und Soldaten zogen es vor, ihm so gut wie<br />

möglich aus dem Wege zu gehen, doch das kümmerte<br />

ihn nicht. Manchmal verbrachte er sogar ganze Tage<br />

in seinem Studierzimmer und ließ sich das Essen<br />

heraufbringen. Es gab sowieso niemanden, mit dem er<br />

im großen Saal hätte speisen können; Leute von Stand<br />

zog es nicht an das Ende der Welt.<br />

An einem dieser Tage wurde Marcellus schließlich<br />

vom Hunger in seinen Studien unterbrochen. Hätte das<br />

Essen nicht schon längst serviert werden sollen? Der<br />

alte Ephraim wurde auch von Tag zu Tag langsamer.<br />

Ach was, Gicht – das war doch keine Entschuldigung!<br />

Wutentbrannt sprang Marcellus von seinem Stuhl auf<br />

und eilte zur Tür. Wehe, der Hundesohn war noch nicht<br />

auf dem Weg nach oben! Er würde ihm die Haut von den<br />

Knochen peitschen lassen – ihm oder dem Koch. Oder<br />

doch besser beiden, er war in der Stimmung dazu.<br />

Wutschnaubend stürmte Marcellus die Treppen<br />

hinunter. Auf dem zweiten Treppenabsatz fand er ihn<br />

dann. Ephraim lag hingestreckt auf den Stufen, sein<br />

altes Herz hatte schließlich den Dienst aufgekündigt.<br />

Das Tablett, zerbrochene Schüsseln und verschüttetes<br />

Essen lagen um ihn herum. Zorn wallte in Marcellus<br />

empor. Hätte der blöde Hund nicht krepieren können,<br />

nachdem er ihm das Essen gebracht hätte? Ja, hätte er<br />

nicht überhaupt im Bett sterben können, wie es sich<br />

für alte Leute gehörte, anstatt die Treppen der Burg<br />

zu verunreinigen? Hoffentlich waren seine letzten<br />

Augenblicke wenigstens sehr schmerzhaft gewesen!<br />

Marcellus ging zu seinen Gemächern zurück, jeweils<br />

zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, und schlug laut<br />

die Tür hinter sich zu. Erst Minuten später kam ihm sein<br />

gefühlloses Verhalten zu Bewußtsein. Hatte er Ephraim<br />

nicht sein ganzes Leben lang gekannt? Der alte Mann<br />

war der loyalste Diener gewesen, den ein Fürst sich nur<br />

wünschen konnte. Und er hatte ihn noch beschimpft<br />

und wie ein Stück Dreck auf den Stufen liegen lassen.<br />

Was war nur in ihn gefahren?<br />

Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Zauberbuch,<br />

und einen Augenblick lang hatte er den Eindruck, es<br />

würde ihm winken. Die Buchstaben auf den Seiten<br />

schienen ihm zuzuraunen, er solle sich nicht mit<br />

Unwichtigem abgeben, sondern lesen... lesen...<br />

Die Erkenntnis durchfuhr Marcellus wie ein Blitz:<br />

Das vermaledeite Buch war an allem Schuld. Die<br />

Schwarzkunst, sie schenkte einem Macht, doch man<br />

musste mit seiner Seele dafür bezahlen. Wie nahe war<br />

er daran gewesen, zu einem gefühllosen Monstrum zu<br />

werden? Doch das war jetzt vorbei!<br />

Mit einem Schritt war er bei dem Lesetisch, sechs<br />

weiter Schritte brachten ihn an den Kamin, dessen<br />

ruhig brennendes Feuer die feuchte Kühle aus dem<br />

Raum vertrieb. Funken stoben empor, als er das Buch<br />

hineinschleuderte. Doch das Buch verbrannte nicht.<br />

Der Ledereinband und das Pergament lagen in den<br />

Flammen, ohne selbst Feuer zu fangen. Das Wort<br />

fuhr wie von selbst aus Marcellus’ Mund, seine Finger<br />

formten die rituellen Zeichen, und das Buch explodierte<br />

in Flammen, verzehrt von magischem Feuer.<br />

Marcellus lächelte triumphierend, doch das Lächeln<br />

gefror auf seinen Lippen. Er hatte Magie eingesetzt, um<br />

Magie zu vernichten. Noch immer hatte das Buch ihn in<br />

seinem Würgegriff, versuchte ihn zu korrumpieren. Das<br />

durfte nicht sein!<br />

Er würde der Magie abschwören und Orthak<br />

verlassen, gleich morgen, um seiner Vergangenheit<br />

zu entkommen, um woanders einen neuen Anfang zu<br />

wagen. Doch er wußte, dass er das Wissen von Jahren<br />

nicht aus seinem Gedächtnis tilgen konnte; es würde ihn<br />

überallhin begleiten und ihn stets verführen, den leichten<br />

Weg zu nehmen. Den Weg, der in die Verderbnis führte.<br />

Schwer atmend ahnte Marcellus von Orthak, dass ihm<br />

der schwerste Kampf noch bevorstand: der Kampf<br />

gegen sich selbst. Doch er würde ihn wagen – wenn es<br />

sein musste, ein Leben lang.<br />

Rubriken Lesen & Spielen Abenteuer Prosa, Lyrik & Comics Rezensionen<br />

www.anduin.de - © 2003 Tommy Heinig<br />

[joachim a. hagen]<br />

63

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!