Akt 2 - Anduin
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Akt 2 - Anduin
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diente, und die Dienerinnen, die weder lesen noch<br />
schreiben konnten. Außerdem verbarg er das Buch<br />
hinter seinem Bücherbord, wenn er nicht studierte. Die<br />
ganze Aufregung um Hexerei war doch nur die Mißgunst<br />
derjenigen, die nicht willensstark genug waren, um<br />
Magie zu wirken, und die Angst der Mächtigen, dass<br />
Magie gegen sie eingesetzt werden könnten. Dabei<br />
war sie so ein treffliches Werkzeug.<br />
Dennoch war Marcellus klar, dass er seine neue<br />
Gabe sehr vorsichtig einsetzen musste. Nützlich war<br />
sie zweifellos: Ritt er zu den Bauern hinaus, um den<br />
Zehnten einzutreiben, so lauschte er ihren Märchen<br />
vom kargen Boden, dem schlechten Wetter und tat so,<br />
als ob er ihnen glaubte. Als sie dann glaubten, er habe<br />
ihren Hof verlassen, kam er heimlich zurück, spähte<br />
sie durch ein Fenster aus und warf einen Blick in ihren<br />
Geist. Einige hatten tatsächlich die Wahrheit gesagt,<br />
aber fast alle hatten irgendwo ein geheimes Versteck.<br />
Dann klopfte er erneut an ihre Tür, tat so, als sei ihm<br />
noch etwas eingefallen, und ließ sich den Hof zeigen –<br />
und zwar alles. Oh, ihre lächerliche Versuche, ihn in die<br />
falsche Richtung zu locken. Oh, ihre Nervosität, wenn<br />
er dem Versteck zu nahe kam. Und erst ihre entsetzten<br />
Gesichter, wenn er es dann „zufällig“ fand. Wie hatte<br />
er sich zeitweise auf die Lippen beißen müssen, um ein<br />
Lachen zu unterdrücken!<br />
Magie war Macht, und Marcellus setzte alles daran,<br />
um so mächtig wie möglich zu werden. Er hatte keine<br />
Zeit mehr, Freunde zu besuchen oder auf die Jagd<br />
zu reiten, das war nur unnötige Zeitverschwendung.<br />
Selbst seine Amtsgeschäfte empfand er zunehmend als<br />
Belastung und erledigte sie mit spürbarer Gereiztheit.<br />
Seine Diener und Soldaten zogen es vor, ihm so gut wie<br />
möglich aus dem Wege zu gehen, doch das kümmerte<br />
ihn nicht. Manchmal verbrachte er sogar ganze Tage<br />
in seinem Studierzimmer und ließ sich das Essen<br />
heraufbringen. Es gab sowieso niemanden, mit dem er<br />
im großen Saal hätte speisen können; Leute von Stand<br />
zog es nicht an das Ende der Welt.<br />
An einem dieser Tage wurde Marcellus schließlich<br />
vom Hunger in seinen Studien unterbrochen. Hätte das<br />
Essen nicht schon längst serviert werden sollen? Der<br />
alte Ephraim wurde auch von Tag zu Tag langsamer.<br />
Ach was, Gicht – das war doch keine Entschuldigung!<br />
Wutentbrannt sprang Marcellus von seinem Stuhl auf<br />
und eilte zur Tür. Wehe, der Hundesohn war noch nicht<br />
auf dem Weg nach oben! Er würde ihm die Haut von den<br />
Knochen peitschen lassen – ihm oder dem Koch. Oder<br />
doch besser beiden, er war in der Stimmung dazu.<br />
Wutschnaubend stürmte Marcellus die Treppen<br />
hinunter. Auf dem zweiten Treppenabsatz fand er ihn<br />
dann. Ephraim lag hingestreckt auf den Stufen, sein<br />
altes Herz hatte schließlich den Dienst aufgekündigt.<br />
Das Tablett, zerbrochene Schüsseln und verschüttetes<br />
Essen lagen um ihn herum. Zorn wallte in Marcellus<br />
empor. Hätte der blöde Hund nicht krepieren können,<br />
nachdem er ihm das Essen gebracht hätte? Ja, hätte er<br />
nicht überhaupt im Bett sterben können, wie es sich<br />
für alte Leute gehörte, anstatt die Treppen der Burg<br />
zu verunreinigen? Hoffentlich waren seine letzten<br />
Augenblicke wenigstens sehr schmerzhaft gewesen!<br />
Marcellus ging zu seinen Gemächern zurück, jeweils<br />
zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, und schlug laut<br />
die Tür hinter sich zu. Erst Minuten später kam ihm sein<br />
gefühlloses Verhalten zu Bewußtsein. Hatte er Ephraim<br />
nicht sein ganzes Leben lang gekannt? Der alte Mann<br />
war der loyalste Diener gewesen, den ein Fürst sich nur<br />
wünschen konnte. Und er hatte ihn noch beschimpft<br />
und wie ein Stück Dreck auf den Stufen liegen lassen.<br />
Was war nur in ihn gefahren?<br />
Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Zauberbuch,<br />
und einen Augenblick lang hatte er den Eindruck, es<br />
würde ihm winken. Die Buchstaben auf den Seiten<br />
schienen ihm zuzuraunen, er solle sich nicht mit<br />
Unwichtigem abgeben, sondern lesen... lesen...<br />
Die Erkenntnis durchfuhr Marcellus wie ein Blitz:<br />
Das vermaledeite Buch war an allem Schuld. Die<br />
Schwarzkunst, sie schenkte einem Macht, doch man<br />
musste mit seiner Seele dafür bezahlen. Wie nahe war<br />
er daran gewesen, zu einem gefühllosen Monstrum zu<br />
werden? Doch das war jetzt vorbei!<br />
Mit einem Schritt war er bei dem Lesetisch, sechs<br />
weiter Schritte brachten ihn an den Kamin, dessen<br />
ruhig brennendes Feuer die feuchte Kühle aus dem<br />
Raum vertrieb. Funken stoben empor, als er das Buch<br />
hineinschleuderte. Doch das Buch verbrannte nicht.<br />
Der Ledereinband und das Pergament lagen in den<br />
Flammen, ohne selbst Feuer zu fangen. Das Wort<br />
fuhr wie von selbst aus Marcellus’ Mund, seine Finger<br />
formten die rituellen Zeichen, und das Buch explodierte<br />
in Flammen, verzehrt von magischem Feuer.<br />
Marcellus lächelte triumphierend, doch das Lächeln<br />
gefror auf seinen Lippen. Er hatte Magie eingesetzt, um<br />
Magie zu vernichten. Noch immer hatte das Buch ihn in<br />
seinem Würgegriff, versuchte ihn zu korrumpieren. Das<br />
durfte nicht sein!<br />
Er würde der Magie abschwören und Orthak<br />
verlassen, gleich morgen, um seiner Vergangenheit<br />
zu entkommen, um woanders einen neuen Anfang zu<br />
wagen. Doch er wußte, dass er das Wissen von Jahren<br />
nicht aus seinem Gedächtnis tilgen konnte; es würde ihn<br />
überallhin begleiten und ihn stets verführen, den leichten<br />
Weg zu nehmen. Den Weg, der in die Verderbnis führte.<br />
Schwer atmend ahnte Marcellus von Orthak, dass ihm<br />
der schwerste Kampf noch bevorstand: der Kampf<br />
gegen sich selbst. Doch er würde ihn wagen – wenn es<br />
sein musste, ein Leben lang.<br />
Rubriken Lesen & Spielen Abenteuer Prosa, Lyrik & Comics Rezensionen<br />
www.anduin.de - © 2003 Tommy Heinig<br />
[joachim a. hagen]<br />
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