ERNST LUDWIG KIRCHNER ALS ARCHITEKT - Mathildenhöhe
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3 Fritz Schumacher, Ausstellungsgebäude,<br />
aus: Studien, Leipzig 1900, Lithografie nach<br />
Kohlezeichnung, 55 x 40 cm<br />
110 K E R S T I N Z A S C H K E<br />
Unterricht vorfand, spottet jeder Beschreibung. Es war ein Saal von oben bis unten behängt<br />
mit schmutzigen Gipsen, aber nicht etwa die üblichen klassischen Vorbilder, sondern<br />
Abgüsse der übelsten Ornamentik der sächsischen Pseudo-Renaissance vom Jahrhundertende.<br />
Diese gespenstische Kunsthölle saß gedrängt voll junger erwartungsvoller<br />
Menschen, die vom Erwachen der ›dekorativen Kunst‹ gehört hatten. Mitten unter ihnen<br />
saßen Kirchner und Heckel, die als werdende Architekten von mir die Kunst des<br />
›Freihandzeichnens‹ zu lernen hofften.« 28 Schumacher wechselte als erstes das Lehrmaterial<br />
aus. »Der Saal füllte sich mit Abgüssen edelster Kunstwerke, Holzschnitzereien<br />
und farbigen Stoffen; dazu kamen natürliche Pflanzen, Schmetterlinge und Muscheln,<br />
und an der Hand dieses Materials wurde in verschiedenartigster Weise mit Kohle, Pinsel<br />
und Stift, ja nach den Neigungen und Fähigkeiten des einzelnen, gewirtschaftet. Besonders<br />
schien mir das Skizzieren architektonischer Schmuckformen wichtig, deren Modelle,<br />
hoch und unverrückbar an den Wänden des Saales angebracht, nicht anders zu erfassen<br />
waren, als wenn man sie in wirklichen Kirchenräumen oder Palasthöfen hätte<br />
aufs Korn nehmen wollen.« 29 In der Bauformenlehre der Antike versuchte er das Zeichnen<br />
durch Skizzieren in der Art von Naturaufnahmen lebendiger zu gestalten. Parallel zu<br />
diesen Übungen der Bauformenlehre hielt er Vorlesungen; diese waren eher eine von<br />
»den eigenen Instinkten« gestaltete Improvisation, die er sich später zum bewussten<br />
Prinzip machte. »Ich behandelte die Lehre der antiken Baukunst so unwissenschaftlich<br />
wie möglich, um nicht das Antiquarische, sondern das Allgemeingültige ihres Gedankenganges<br />
recht stark zum Vorschein zu bringen, und das Stilkolleg [Stillehre des Kunstgewerbes]<br />
suchte ich umgekehrt möglichst wissenschaftlich zu verankern, um den<br />
schwankenden Boden ästhetischer Reflexionen nach Kräften mit gesundem Tatsachenmaterial<br />
zu pflastern und so sicherer begehbar zu machen«. 30 In seinem ersten Semester<br />
trug er zu Stil und Technik vor, in dem er »an den verschiedenen Stoffen: Textilien, Keramik,<br />
Holz, Stein, Metall die ewigen Gesetze materialgerechten Gestaltens gesucht und<br />
der befruchtende Schatz der rein technischen Möglichkeiten vorgewiesen [hatte].« 31 Im<br />
zweiten Semester Stil und Form behandelte er »die typischen Gestaltungen, zu denen<br />
die immer wiederkehrenden baulichen Aufgaben führen«.<br />
Schumacher hielt seine Vorlesungen stets frei, höchstens mithilfe einer stichwortartigen<br />
Gliederung. Parallel dazu zeichnete er alle Illustrationen an die Tafel: Kunstformen,<br />
Perspektiven und technische Schnitte, während die Studenten alles nachzeichneten. Bei<br />
den Studenten kam die Art und Weise, wie Schumacher seine Fächer lehrte, offenbar an:<br />
»An der Technischen Hochschule war es unter den Professoren vor allem die Persönlichkeit<br />
Fritz Schumachers, die uns stark fesselte und förderte. Schumacher war 1901, als wir<br />
die th bezogen, eben als Professor an die Hochbauabteilung berufen worden, wir gehörten<br />
also zu seinen ersten Schülern, und es war uns gerade recht, daß er, der als Künstler<br />
unter den ersten war, die sich von der totgelaufenen Stilarchitektur ab und – nach Überwindung<br />
des Jugendstils – freierem Schaffen zuwandten, uns junge Studenten ebenfalls<br />
zu solchem Schaffen anzuregen suchte und verstand. Freilich führte das zu noch ungeklärten<br />
Formen und Gestaltungen, immerhin begann ein frischerer Geist an der th umzugehen,<br />
von dem wir uns mit vollen Zügen erfassen ließen.« 32 Schumacher verkörperte<br />
wohl nicht nur unter Studenten den frischeren Geist. Er galt »als Wortführer einer ex-<br />
trem gerichteten Moderne«, 33 der sich auf Initiative Cornelius Gurlitts34 an der th Dresden<br />
beworben hatte. 35 Für seine Berufung sprachen außer seinen Schriften36 wohl auch<br />
seine 1900 erschienenen Studien37 (ABB. 3, 4), in Kohle gezeichnete monumentale Architekturfantasien.