ERNST LUDWIG KIRCHNER ALS ARCHITEKT - Mathildenhöhe
ERNST LUDWIG KIRCHNER ALS ARCHITEKT - Mathildenhöhe
ERNST LUDWIG KIRCHNER ALS ARCHITEKT - Mathildenhöhe
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
LEBENSKULTUR – REFORMKULTUR<br />
DRESDEN UM 1900<br />
HENRIK KARGE<br />
»Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der<br />
Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen und als Jugend, die die Zukunft trägt,<br />
wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen<br />
älteren Kräften.« 1<br />
1906 veröffentlichte die Künstlergruppe »Brücke« ihr berühmt gewordenes Manifest –<br />
von Ernst Ludwig Kirchner als Holzschnitt umgesetzt – als Appell zum radikalen künstlerischen<br />
Aufbruch. 2 In ihrer drängenden, ja geradezu aggressiven Rhetorik waren diese<br />
Worte durch die Schriften Friedrich Nietzsches, allen voran Also sprach Zarathustra, geprägt<br />
und spiegelten das Ideal der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Dazu<br />
gehört der perpetuierte Aufbruch, die Überwindung bestehender Verhältnisse, die ewige<br />
Dynamik des Lebens und Schaffens, die Beschwörung der Jugend und der Zukunft.<br />
Es blieb nicht beim Programm: Die Kunst der »Brücke« war bestimmt von ständigen<br />
Veränderungen, wie die häufigen stilistischen Umbrüche in der kurzen Geschichte der<br />
Künstlergruppe eindrucksvoll beweisen – und der Bruch der Konventionen wurde im<br />
Leben der Künstler erstaunlich konsequent in die Tat umgesetzt. 3<br />
So erhob die »Brücke« von Beginn an die Avantgarde zum Prinzip ihrer Kunst, und dieses<br />
Prinzip basierte auf der radikalen Distanz zum gesellschaftlichen und künstlerischen<br />
Umfeld. In der Tat brachte die Abkehr der Architekturstudenten von der ihnen vorgezeichneten<br />
beruflichen Laufbahn und die Wahl eines freien Künstlerlebens in der proletarisch<br />
geprägten Dresdner Friedrichstadt eine gewisse Isolation innerhalb des städtischen<br />
Kulturlebens mit sich, doch bedeutete die »Brücke«-Ausstellung in der renommierten<br />
Galerie Arnold 1910 eine öffentliche Anerkennung der Künstlergruppe innerhalb<br />
der Dresdner Gesellschaft. 4 Für die spätere Mythenbildung um die »Brücke« war das romantische<br />
Bild der unverstandenen Künstlergenies dagegen geradezu konstitutiv, und<br />
so setzte sich in der Literatur ein Klischee fest, das im Dresden der Wende zum 20. Jahrhundert<br />
eine vergangenheitsfixierte Beamtenstadt sah, die keinen Raum für künstlerische<br />
Neuerungen bot. 5 In Wirklichkeit war die sächsische Residenzstadt um 1900 eine<br />
der dynamischsten deutschen Großstädte, und zwar sowohl in gesellschaftlicher und<br />
wirtschaftlicher Hinsicht als auch auf den verschiedensten Feldern der Kultur. Die folgenden<br />
Ausführungen stellen den Versuch dar, eine knappe Skizze dieser kulturellen<br />
Vielfalt zu entwerfen.<br />
Der Wandel der Elbmetropole von einer beschaulichen Residenzstadt in der ersten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer modernen Großstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />
spiegelt sich in quantitativer Hinsicht in einer rasanten Bevölkerungsentwicklung:<br />
1914 wurden in Dresden 567.000 Einwohner gezählt, mehr als dreimal so viele wie zur<br />
Zeit der Reichsgründung 1871 (177.040) 6 – und immer noch etwas mehr als in der Gegenwart.<br />
Das Wachstum stellte hohe Anforderungen an die Entwicklung der städtischen<br />
Infrastruktur, die in den Jahrzehnten um 1900 zügig ausgebaut wurde.<br />
Dresdner Zwinger, Ansicht des Kronentores<br />
von der Terrasse der Langgalerie,<br />
Fotografie von Ermenegildo Antonio<br />
Donadini, um 1900<br />
73