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ERNST LUDWIG KIRCHNER ALS ARCHITEKT - Mathildenhöhe

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herkömmlicher akademischer Weise, sondern als »Viertelstundenakt«. Bald hatten wir<br />

als Modell ein bezauberndes junges Mädchen, fast noch ein Kind, die etwa fünfzehnjährige<br />

Isabella gefunden, ein quicklebendiges, schönstgebautes, durch keine Korsettmodetorheit<br />

verunstaltetes, fröhlich und gewandt auf unsere künstlerischen Ansprüche eingehendes<br />

Persönchen, gerade im Zustand des Aufblühens der Mädchenknospe. Mit wahrer<br />

Begeisterung wurde eine Stunde lang, wohl auch länger, gearbeitet, und manche gelungene<br />

Akt- und Bewegungszeichnung hingelegt, ja hingehauen, von denen ich noch<br />

eine ganz Anzahl aufbewahrt habe. Um eine recht reiche Ernte an Aktzeichnungen herauszuholen<br />

und einzuheimsen, wurde sogar oft der Platz schon bei Halbzeit der Viertelstunde<br />

gewechselt, so waren wir von geradezu herrlicher Arbeitswut besessen. An diesen<br />

Veranstaltungen beteiligen sich nach und nach auch einige junge Architekten unserer<br />

Bekanntschaft, so daß oft eine ganz stattliche Anzahl junger Aktzeichenbeflissener<br />

eifrigst und verbissen arbeitend um Isabella versammelt saß. Das war uns engeren Gemeinschaftsgliedern<br />

auch deshalb nicht unwillkommen, als ja dadurch die Modellkostenumlage<br />

um so geringer ausfiel.<br />

Nach Ablauf der Aktstunde blieben wir dann meist bei Tee, den die Wirtin kochen<br />

mußte, noch lange angeregt gesellig beisammen, führten nachdenkliche oder schöngeistige<br />

Gespräche oder lasen gehaltvolles Beachtenswertes vor. Dann bot uns wohl<br />

auch Heckel aus Büchern Kirchners dies und jenes Gedicht oder sprach es aus dem Gedächtnis,<br />

hinreißend, packend, lebenssprühend, sei es »Die Brück’ am Tay«, »Zwei Füße<br />

im Feuer« oder aus Walt Whitmans »Grashalmen«, »Kavallerie durchreitet«, »Kühn,<br />

vorsichtig und treu mein lieber Gefährte«, »Wir zwei Knaben, fest uns fassend, keiner<br />

von dem andern lassend«, oder aber auch aus den »Freß-, Sauf- und Venusliedern« von<br />

Arno Holz Derbes, Unbekümmertes, in herzhafter Sprache.<br />

Dabei ging es natürlich auch oft laut und lustig zu, so daß Kirchners Wirtsleute aufsäßig<br />

wurden und das weitere Viertelstundenaktzeichnen nach meiner »Bude« verlegt wurde,<br />

einem schönen, großen, hellen Zimmer im vierten, dem Atelierstockwerk, des mit jener<br />

eigentümlichen ovalen, freitragenden Monumentaltreppe ausgestatteten Lüttichaupalais<br />

an der Bürgerwiese.<br />

So viel ich mich erinnere, saß hier auch zum ersten Male eine neue Persönlichkeit zeichnend<br />

unter uns, ein stattlicher, kraftvoller, bebrillter junger Mann, ernst, zurückhaltend,<br />

aber auch schon mit Blick und Wesen und der Pranke des Löwen Großes ankündigend<br />

und ahnen lassend: Karl Schmidt aus Rottluff bei Chemnitz, der sich bald den Künstlernamen<br />

Schmidt-Rottluff zulegte und der dann ebenfalls zu den Gründern und Männern<br />

der neuen Künstlervereinigung gehören sollte, die sich endlich unter dem bedeutungsträchtigen<br />

und sinnvollen Namen »Brücke« zusammenschloß.Wer den Namen »Brücke«<br />

zuerst vorgeschlagen oder erfunden hat, weiß ich nicht mehr zu sagen; ich glaube aber,<br />

es war Heckel. Ursprünglich war die Bezeichnung »Künstlergruppe« vorgeschlagen und<br />

stand zur Entscheidung. Wir kamen jedoch davon ab und wählten »Künstlervereinigung«.<br />

Mit von Selbstvertrauen getragener Begeisterung wurde die Einrichtung der<br />

neuen Künstlervereinigung beraten und in Angriff genommen, mit großem Mut und jugendlicher<br />

Rücksichtslosigkeit und Keckheit der zunächst fast aussichtslos erscheinende<br />

Kampf wider die gegnerischen Kräfte begonnen.<br />

E R I N N E R U N G E N<br />

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