ERNST LUDWIG KIRCHNER ALS ARCHITEKT - Mathildenhöhe
ERNST LUDWIG KIRCHNER ALS ARCHITEKT - Mathildenhöhe
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Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen und als Jugend, die<br />
die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den<br />
wohlangemessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht<br />
das wiedergibt, was ihm zum Schaffen draengt.« 29<br />
Anarchischer Freiheitsdrang und leidenschaftlicher Erneuerungswille paarten sich mit<br />
einem von Nietzsche geprägten Elitebewusstsein mit dem Ziel, sich Unabhängigkeit<br />
vom bis dato Gültigen zu verschaffen. 30 »Unmittelbar und unverfälscht« sollte das Gesehene<br />
und Gefühlte einen reinen Ausdruck finden. Gerade als nicht von einer Kunstakademie<br />
Verbildete wähnten sie sich frei von historischer Prägung und engem Stilkorsett.<br />
Besonders der arrivierte Kirchner stilisierte sich als gänzlich unabhängig von Einflüssen.<br />
Er leugnete vehement jegliche Vorbilder, ja sogar die gegenseitige Befruchtung der<br />
»Brücke«-Mitglieder in den frühen Jahren ihres aktiven Künstlerverbundes. Insbesondere<br />
seine zwischen 1920 und 1933 unter dem Pseudonym Louis de Marsalle veröffentlichten<br />
Texte zielten darauf ab, sich als autonome, einzig aus sich schöpfende Künstlerpersönlichkeit<br />
darzustellen. Keinen zeitgenössischen Künstler lässt er als Inspirationsquelle<br />
gelten, wenn überhaupt dann seien es nur die alten Meister, bei denen er »die gemeinsame<br />
Grundlage der Naturwelt« fühlte. 31 Kirchner nahm sich, wie nicht selten unter<br />
Künstlern, als einsamen Einzelkämpfer war und verwahrte sich nach Auflösung der<br />
»Brücke« streng dagegen, mit den Mitstreitern und überhaupt mit dem Expressionismus<br />
in Verbindung gebracht zu werden. 32<br />
Aber wie verlief die Entwicklung zur freien Künstlerschaft tatsächlich?<br />
W E I T E R E N T W I C K L U N G U N D E I N F L Ü S S E<br />
Im Jahr 1905, nachdem die Vierergruppe sich zusammengetan hatte und ihr Selbstverständnis<br />
als angehende Künstler gewachsen war, mietete man ehemalige Laden- beziehungsweise<br />
Werkstatträume in Dresden-Friedrichstadt als gemeinschaftlich genutzte<br />
Ateliers. Die Gemeinschaft Gleichgesinnter hob das künstlerische Schaffen auf eine<br />
neue, gewissermaßen professionellere Ebene (ABB. 4). Indem man weitere am Aktstudium<br />
Interessierte hinzuzog, konnte man sich Modelle leisten und es wurden die Übungen<br />
der sogenannten »Viertelstundenakte« eingeführt. 33 Diese Form des Aktzeichnens<br />
wies sich dadurch aus, dass entgegen der akademischen Tradition, wonach das Modell<br />
über lange Zeit hinweg in einer Pose verharrt, hier das Modell nach wenigen Minuten<br />
eine neue Stellung einnahm, sodass es auf schnelle Auffassung und eine präzise Umsetzung<br />
des Körpers mit wenigen Strichen ankam. 34 Laut der von Kirchner 1913 verfassten<br />
Chronik der »Brücke« bot sich ihnen dadurch »die Möglichkeit, den Akt, die Grundlage<br />
aller bildenden Kunst, in freier Natürlichkeit zu studieren. Aus dem Zeichnen dieser<br />
Grundlage ergab sich das allen gemeinsame Gefühl, aus dem Leben die Anregung zum<br />
Schaffen zu nehmen und sich dem Erlebnis unterzuordnen.« 35 »Freie Natürlichkeit« und<br />
»Erlebnis« sind die entscheidenden Stichworte für ihre Arbeitsweise, gepaart mit der im<br />
Programm beschworenen Unmittelbarkeit und Unverfälschtheit, die gerade gegenüber<br />
dem technisch-trockenen Zeichnen im Studium außerordentliche Geltung haben mussten.<br />
In den späteren Erinnerungen der Künstler wird der Schaffensrausch der frühen<br />
Jahre als impulsiv und dynamisch, ja unreflektiert beschrieben. 36<br />
Neben dem Zeichnen widmeten sich die Studenten ab 1904 auch intensiv dem Holzschnitt<br />
und wandten sie sich ab 1906 verstärkt der Malerei zu. In den frühen Holzschnitten<br />
von Kirchner und Bleyl ist die Orientierung am Jugendstil unübersehbar. Auch<br />
dass sie die satirische Grafik von Thomas Theodor Heine und Olaf Gulbransson im Simplizissimus<br />
sowie die Gestaltung des Ver Sacrum, das Organ der Wiener Secession, stu-<br />
4 Karl Schmidt-Rottluff, In einem Atelier,<br />
1905, Holzschnitt, 30,8 × 15 cm,<br />
Sammlung Gerlinger, Museum Moritzburg,<br />
Halle (Saale)<br />
V O M A R C H I T E K T E N , D E R A U S Z O G , M A L E R Z U W E R D E N<br />
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