9 Ernst Ludwig Kirchner, Zwei Entwürfe für die Ausgestaltung des Festsaales im Museum Folkwang Essen, publiziert durch Gustav Schiefler in Das Kunstblatt, Februar 1929 56 K A T H A R I N A S I E G M A N N Die souveräne Fähigkeit, dreidimensionalen Raum in zweidimensionale Malerei zu überführen, und der versierte Umgang mit der Perspektive stammen aus der Architekturausbildung. Diese stand an der th Dresden vor allem durch Fritz Schumacher unter dem Vorzeichen der Erneuerung und der Reformkunst – Architektur wurde als Raumkunst begriffen und dementsprechend die Grenzen zwischen gebauter, angewandter und freier Kunst sukzessive aufgelöst. Aus diesem Verständnis heraus stattete Kirchner seine Ateliers und später seine Häuser in Davos im Sinne eines Gesamtkunstwerkes aus. Jenseits der Privatsphäre boten sich ihm nur begrenzt Möglichkeiten, Räume zu gestalten. Als Beispiele lassen sich die Einrichtung einer Kapelle (gemeinsam mit Heckel) auf der Sonderbund-Ausstellung in Köln 1912 nennen, 48 der Ausstellungsstand für den Tabakfabrikanten Feinhals auf der zwei Jahre später ebenfalls in Köln gezeigten Werkbund- Ausstellung sowie die Ausmalung eines Treppenhauses im Sanatorium Dr. Kohnstamm in Kronberg 1916. Die Entwürfe zur Raumausstattung des Festsaals im Folkwang- Museum aus den Jahren 1927 bis 1928 blieben unausgeführt (ABB. 9). In der Malerei Kirchners, wie der »Brücke«-Mitglieder generell, ist die Architektur zentrales Thema: Geradezu exemplarisch stehen etwa die Berliner Straßenszenen in ihrer Gedrängtheit und Nervosität für den Stil des Expressionismus und das damit verbundene Lebensgefühl. Dabei sind es weniger bekannte Stadtansichten als vielmehr abseitige Orte wie Hinterhöfe, Eisenbahnbrücken, technische Anlagen, Kanäle und Fabriken, die bevorzugt als Motive gewählt wurden. Und gerade in den radikalen Ausschnitten, der Skizzenhaftigkeit und der gezielten Verzerrung liegt die meisterliche Handhabung von Aufbau und Perspektive, die im Architekturstudium begründet wurde.
1 Fritz Bleyl, Erinnerungen, in: Hans Wentzel, Fritz Bleyl. Gründungsmitglied der »Brücke«, in: Kunst in Hessen und am Mittelrhein 8, 1968, S. 96. 2 Abdruck von Kirchners Diplomzeugnis und seiner Diplomarbeit in diesem Katalog auf S. 2, 12–27. 3 Laut Kirchner haben er und die anderen »Brücke«-Gründer das Architekturstudium »mehr aus dem äußerlichen Grunde [ergriffen], um das nötige Geld vom Vater für ein gebilligtes Studium zu erhalten als aus Interesse«, zit. nach Lothar Grisebach (Hg.), Ernst Ludwig Kirchners Davoser Tagebuch, 1919–1928, Köln 1968, S. 65; siehe auch Fritz Bleyls Begründung für das Studium in: Bleyl 1968 (wie Anm. 1), S. 92f.; vgl. Bleyls Erinnerungen in diesem Katalog auf S. 66–71. 4 Hierzu Renate Ritter, Das Realgymnasium Chemnitz als Nährboden einer deutschen Kunstrevolte?, in: 150 Jahre Gymnasium Chemnitz. Georgius-Agricola-Gymnasium (1857–2007), Chemnitz 2007, S. 51–59. 5 Ernst Ludwig Kirchner, Die Arbeit E. L. Kirchners, um 1925/26, abgedruckt in: Eberhard W. Kornfeld, Ernst Ludwig Kirchner, Nachzeichnung seines Lebens, Bern 1979, S. 333. 6 Brief Ernst Ludwig Kirchners an Carl Hagemann, 30. Juni 1937, zit. nach: Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog der Gemälde, München 1968, S. 10. 7 Reifeprüfungszeugnis in der Studentenakte Kirchners an der th Dresden: tu dd ua Nr. 5836. 8 Zu Kirchners Kinderzeichnungen siehe Hans- Günther Richter, Ernst Ludwig Kirchner und die Kinderzeichnung, in: Ernst Ludwig Kirchner. Leben ist Bewegung (Ausst.-Kat. Städtische Galerie Aschaffenburg) 1999, S. 24–35. 9 Die zwei Skizzenbücher aus den Jahren 1900/01 und 1901/02 befinden sich in der Sammlung Gerlinger, verwahrt im Museum Moritzburg Halle (Saale). 10 Ausführlich zum Studium der Architektur an der th Dresden siehe den Aufsatz in diesem Katalog von Kerstin Zaschke, Die Architekturlehre in Dresden zur Zeit Ernst Ludwig Kirchners, S. 107–119. 11 Bleyl 1968 (wie Anm. 1), S. 93. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 94. 14 Jean Louis Sponsel, Das moderne Plakat, Dresden 1897. 15 Grisebach 1968 (wie Anm. 3), S. 84. 16 Fritz Schumacher, Antrittsvorlesung bei der Übernahme seiner Professur an der Königlich Technischen Hochschule zu Dresden am 10. Mai 1901, in: Das Bauschaffen der Jetztzeit und seine historische Überlieferung, (Leipzig 1901) Nachdr. Nendeln/Liechtenstein 1976, S. 5–31, hier S. 9f. 17 Ebd., S. 12f. 18 Ebd., S. 21f. 19 Ebd., S. 28. 20 Zu Kirchners Studienaufenthalt in München siehe Thomas Röske, Entwicklung zum eigenen Stil. Ernst Ludwig Kirchner in München 1903/04, in: Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner, hg. von Erich Franz (Ausst.-Kat. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster), Bönen 2007, S. 222–226. 21 Studentenakte Ernst Ludwig Kirchner, th München. 22 Kirchner in einem Brief an Will Grohmann vom 8. Juli 1925, in: Will Grohmann, Lieber Freund. Künstler schreiben an Will Grohmann, Köln 1968, S. 37f. 23 Zum Kursangebot siehe Dagmar Rinker, Die Lehr- und Versuchs-Ateliers für angewandte und freie Kunst (Debschitz-Schule). München 1902– 1914, München 1993 (Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte der Universität München 61), S. 83. 24 Meike Hoffmann, Ernst Ludwig Kirchner. Der Architekt, in: Der Architekt Ernst Ludwig Kirchner. Diplomarbeit und Studienentwürfe 1901–1905, mit einer Einführung von Meike Hoffmann (Ausst.-Kat. Ketterer Kunst München), München 1999; besagte Postkarte von Kirchner an Bleyl vom 18. März 1904 befindet sich im Altonaer Museum. 25 Hermann Obrist, Die Zukunft unserer Architektur, in: Dekorative Kunst 4, 1901, S. 329–349, hier S. 338. 26 Ders., Die Lehr- und Versuchs-Ateliers für angewandte und freie Kunst, in: Dekorative Kunst 7, 1904, S. 229f. 27 Obrist 1901 (wie Anm. 25), S. 348. 28 Hans Kinkel, Aus einem Gespräch mit Erich Heckel, in: Das Kunstwerk 12, 1958, H. 3, S. 24. 29 Programm der »Brücke« zit. nach: Horst Jähner, Künstlergruppe Brücke. Geschichte einer Gemeinschaft und das Lebenswerk ihrer Repräsentanten, Berlin 1984, S. 416. 30 Auf den Einfluss von Nietzsches Schriften auf die »Brücke«-Mitglieder ist mehrfach hingewiesen worden, siehe dazu zum Beispiel Meike Hoffmann, Leben und Schaffen der Künstlergruppe »Brücke« 1905–1913. Mit einem kommentierten Werkverzeichnis der Geschäfts- und Ausstellungsgrafik, Berlin 2005, S. 162–168. 31 Zit. nach Grisebach 1968 (wie Anm. 3), S. 131. 32 So Kirchner in einer Einführung zu seinen Arbeiten im Katalog der Galerie Ludwig Schames, Frankfurt 1920 oder auch in einem Brief an Will Grohmann vom 15. Februar 1924, in: Will Grohmann, E. L. Kirchner, Stuttgart 1958, S. 212. 33 Berichte zum »Viertelstundenakt« von Ernst Heckel siehe Kinkel 1958 (wie Anm. 28), S. 24 sowie von Fritz Bleyl siehe Bleyl 1968 (wie Anm. 1), S. 96. 34 Dass der »Viertelstundenakt« aus der Tradition der privaten Kunstschulen hervorging, wird nachgewiesen von Sandra Mühlenberend, Vom Stillstand zum Leben. Die Herkunft des »Viertelstundenaktes«, in: Die »Brücke« in Dresden 1905–1911, hg. von Birgit Dalbajewa und Ulrich Bischoff (Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden), Köln 2001, S. 278–282. 35 Ernst Ludwig Kirchner, Chronik der KG Brücke, 1913, abgedruckt in: Jähner 1984 (wie Anm. 29), S. 424. 36 Grisebach 1968 (wie Anm. 3), S. 84. 37 Zu den Einflüssen von Jugendstil und japanischer Grafik siehe Petra Lewey, Fritz Bleyls Japo- nismus während der frühen »Brücke«-Zeit, in: Fritz Bleyl, die »Brücke« und der Jugendstil, in: Fritz Bleyl und die frühen Jahre der »Brücke«, hg. von Hermann Gerlinger u. a. (Ausst.-Kat. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum u.a.), Schleswig 1999, S. 29–40 sowie im selben Katalog Heinz Spielmann, Fritz Bleyl, die »Brücke« und der Jugendstil, S. 41–53; Christiane Remm, Die Anfänge der »Brücke«-Graphik im Zeichen des Jugendstils, in: Frühe Druckgraphik der »Brücke«, Frühe Druckgraphik der »Brücke«, hg. von Magdalena M. Moeller (Ausst.-Kat. Brücke- Museum Berlin), München 2005, S. 26–32 sowie im selben Katalog Cathy Stoike, Elegante Schwünge und fernöstliche Harmonie. Fritz Bleyls japonistische Bildsprache und seine Bedeutung für die frühe Druckgraphik der »Brücke«, S. 34–39. 38 Grisebach 1968 (wie Anm. 3), S. 190 und 191. 39 An den sichtbaren Einfluss auf die Zeichnungen seiner Architekturstudenten infolge der Van- Gogh-Ausstellung erinnert sich in einem Aufsatz Fritz Schumacher, Aus der Vorgeschichte der »Brücke«, in: Der Kreis. Zeitschrift für künstlerische Kultur 9, 1932, S. 7–11, S. 8; vgl. in diesem Katalog, S. 102–105. 40 Grisebach 1968 (wie Anm. 3), S. 196. 41 Siehe zur kulturellen Szene Dresdens in diesem Katalog den Aufsatz von Henrik Karge, Lebenskultur. Reformkultur. Dresden um 1900, S. 73–83. 42 Auch Fritz Schumacher gehörte zu der Vielzahl junger Architekten, die für Seifert Beleuchtungskörper entwarfen, siehe Erich Haenel, Fritz Schumacher, in: Dekorative Kunst 6, 1903, S. 281–300, Abb. zu den von der Firma Seifert gefertigten Lampen S. 305 und 308f. 43 Otto Sebaldt, Dresdner Kunstschau ii, in: Sächsische Arbeiterzeitung, Dresden, 17. Ausg., Nr. 246 vom 23. Oktober 1905, 1. Beilage, S. 1. 44 Zur Malerei in Dresden um 1900 siehe Annegret Laabs, Malerei. Kunst im Aufbruch, in: Jugendstil in Dresden. Aufbruch in die Moderne (Ausst.- Kat. Dresden), Wolfratshausen 1999, S. 147–154. 45 Bleyl 1968 (wie Anm. 1), S. 97. 46 Auflistung nach Hoffmann 2005 (wie Anm. 30), S. 111. 47 Jähner 1984 (wie Anm. 29), S. 425. 48 Siehe Alfred M. Fischer, Zur Kölner Sonderbund- Ausstellung und ihrer Kapelle, in: Die Expressionisten. Vom Aufbruch bis zur Verfemung (Ausst.-Kat. Museum Ludwig Köln), Ostfildern- Ruit 1996, S. 262–275, hier S. 267ff. 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