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<strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>, Entstehung und Perspektive<br />
Rouzbeh Taheri<br />
Als an einem verregneten Tag im Sommer<br />
2009 die ersten bekanntgewordenen<br />
Probleme bei der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong><br />
die Titelseiten der Zeitungen beherrschten,<br />
witzelte ein Freund, man hätte nun<br />
nicht nur beim Wetter englische Verhältnisse,<br />
sondern auch bei der S-<strong>Bahn</strong>.<br />
Er bezog sich auf die katastrophale Situation<br />
der britischen Eisenbahn nach<br />
den dort erfolgten Privatisierungen.<br />
Wir ahnten nicht, wie richtig er lag.<br />
Die <strong>Berlin</strong>erinnen und <strong>Berlin</strong>er wollten<br />
es lange nicht wahrhaben, dass die Unfälle,<br />
Zugausfälle, Verspätungen und<br />
zeitweiligen Stilllegungen ganzer Linien<br />
von Dauer sein würden. Schließlich hatte<br />
die S-<strong>Bahn</strong> jahrzehntelang problemlos<br />
funktioniert. Der Krieg behinderte ihre<br />
Fahrt nur für erstaunlich kurze Zeit. Die<br />
Mauer konnte ihr nur teilweise Einhalt<br />
gebieten. Und nach der Vereinigung der<br />
beiden Stadthälften schien eine neue<br />
Blütezeit für die S-<strong>Bahn</strong> anzubrechen.<br />
Dies endete jedoch abrupt in jenem<br />
Sommer des Jahres 2009.<br />
Zunächst ging man von Problemen<br />
aus, die bald behoben sein würden.<br />
Nachdem aber im darauffolgenden Winter<br />
2009/2010 alles schlimmer wurde,<br />
als dann der nächste Sommer keine Besserung<br />
brachte und als es schließlich zu<br />
einem neuen Chaos-Winter 2011/2012<br />
kam, war die Geduld der Hauptstädter<br />
endgültig zu Ende. Gefühlte 100 Erklärungen<br />
der S-<strong>Bahn</strong> Manager, dass bald,<br />
ja ganz bald, alles wieder gut werde, und<br />
gefühlte 100 weitere Erklärungen der<br />
Politik, dass man schon alles im Griff<br />
habe, trugen dazu bei, dass kein Fahrgast<br />
in <strong>Berlin</strong> diesen Damen und Herren<br />
auch nur noch ein Wort glaubte. In der<br />
Zwischenzeit war bekannt geworden,<br />
welche haarsträubenden „Sparmaßnahmen“<br />
bei Infrastruktur und Personal zu<br />
den chaotischen Verhältnissen geführt<br />
hatten. Dies alles erfolgte im Interesse<br />
der Gewinnmaximierung in einem Betrieb,<br />
der eigentlich der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />
dienen sollte.<br />
In dieser Situation, im März 2011,<br />
gründete sich der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>.<br />
Ausgangspunkt war eine Veranstaltung<br />
am 8. März im Haus der Demokratie, bei<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
der Gewerkschaftsmitglieder, Aktive aus<br />
Attac, dem Bündnis <strong>Bahn</strong> für Alle, des<br />
<strong>Berlin</strong>er Antikrisenbündnisses und andere<br />
über die Möglichkeiten eines wirkungsvollen<br />
Widerstandes angesichts<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-Chaos´ diskutierten. Zu diesem<br />
Zeitpunkt wurde auch bekannt, dass<br />
Teile des damaligen, von SPD und Linken<br />
gestellten <strong>Berlin</strong>er Senats über eine Teilprivatisierung<br />
der S-<strong>Bahn</strong> nachdachten.<br />
Die Probleme, die dadurch entstanden<br />
sind, dass die S-<strong>Bahn</strong> sich wie ein privates<br />
Unternehmen benimmt und alles<br />
unternimmt, um die Gewinne zu steigern,<br />
sollten demnach dadurch beseitigt<br />
werden, dass man einen Teil des S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Netzes einem anderen Unternehmen<br />
übergibt, das genauso renditegierig<br />
ist. Solche grandiosen Ideen können nur<br />
Politiker haben, die sowieso auf jede Gelegenheit<br />
warten, um öffentliches Eigentum<br />
zu verscherbeln. Strom, Gas, über<br />
100000 Wohnungen und nicht zuletzt<br />
die Wasserbetriebe wurden in den letzten<br />
Jahren in <strong>Berlin</strong> privatisiert.<br />
Gerade die Geschichte der Privatisierung<br />
der <strong>Berlin</strong>er Wasserbetriebe, ein<br />
Gaunerstück sondergleichen, war und ist<br />
beispielhaft – eine Erläuterung würde<br />
den Rahmen dieses Artikels sprengen –<br />
Interessierte können auf den Seiten des<br />
<strong>Berlin</strong>er Wassertisches alles Wissenswerte<br />
diesbezüglich nachlesen (siehe:<br />
www.berliner-wassertisch.net).<br />
Der Widerstand gegen die Folgen dieser<br />
Privatisierung und der im Februar<br />
2011 erfolgreich durchgeführte Volksentscheid,<br />
organisiert vom <strong>Berlin</strong>er Wassertisch,<br />
standen auch Pate bei der neuen<br />
S-<strong>Bahn</strong>-Initiative. Der Wassertisch<br />
war auch Inspiration bei der Namensgebung<br />
der neu gegründeten S-<strong>Bahn</strong>-Initiative,<br />
wie der gewählte Name S-<strong>Bahn</strong>-<br />
<strong>Tisch</strong> verdeutlicht.<br />
Wir waren uns einig, dass wir nicht<br />
länger tatenlos zusehen wollen, wie<br />
unsere S-<strong>Bahn</strong> kaputtgespart und ihrer<br />
Privatisierung Tür und Tor geöffnet wird.<br />
Es gab zwar bereits zu diesem Zeitpunkt<br />
einige Gruppen, sowohl bei den Beschäftigten<br />
und den Gewerkschaften, als auch<br />
aus anderen Bereichen, die sich mit dem<br />
Thema beschäftigten. Doch diese waren<br />
Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
bis dahin nicht miteinander vernetzt.<br />
Gerade dieser Aspekt der Vernetzung<br />
und der Zusammenarbeit zwischen den<br />
Beschäftigten, politischen Gruppen und<br />
engagierten Fahrgästen ist ein Schwerpunkt<br />
und auch ein Erkennungsmerkmal<br />
des S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong>es. In der Initiative<br />
arbeiten die Gewerkschaft EVG und Betriebsräte<br />
der S-<strong>Bahn</strong> zusammen mit<br />
dem Fahrgastverband PRO BAHN <strong>Berlin</strong>-<br />
Brandenburg, dem Bündnis „<strong>Bahn</strong> für<br />
Alle“, Attac, der Volkssolidarität und<br />
diversen anderen politischen Gruppen,<br />
Bürgervereinen und Einzelpersonen.<br />
Auch politische Parteien – die LINKE,<br />
DKP und die Piraten – sind vertreten.<br />
Wir wollen und werden uns nicht<br />
gegeneinander ausspielen lassen, da<br />
sowohl die Fahrgäste, als auch die S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Mitarbeiter ein Interesse an einer<br />
funktionierenden, sicheren und zukunftsfähigen<br />
S-<strong>Bahn</strong> haben.<br />
Warum ein Volksbegehren?<br />
Um sich einzumischen und den Widerstand<br />
zu organisieren, gibt es unterschiedliche<br />
Möglichkeiten: Veranstaltungen,<br />
Flugblattaktionen, Demonstrationen,<br />
Streiks etc. Es sind alles Instrumente,<br />
die je nach Situation und Kräfteverhältnis<br />
im Rahmen einer politischen<br />
Kampagne eingesetzt werden können.<br />
Ein Volksbegehren ist ein zusätzliches<br />
Instrument. Es soll und kann andere Formen<br />
des Widerstands nicht ersetzen,<br />
sondern soll zu weitergehenden Protesten<br />
ermutigen.<br />
Vor dem Hintergrund des erfolgreichen<br />
Wasser-Volksbegehrens und der<br />
Tatsache, dass das Thema S-<strong>Bahn</strong> in<br />
<strong>Berlin</strong> seit nunmehr drei Jahren ein Dauerbrenner<br />
ist, beschlossen wir die Einleitung<br />
eines Volksbegehrens. Die juristischen<br />
Beschränkungen, die durch Landes-,<br />
Bundes- und Europarecht dem<br />
Inhalt eines Volksbegehrens auferlegt<br />
werden, versuchen wir durch die politische<br />
Begleitkampagne zu kompensieren.<br />
Ein Beispiel: Wir können aus juristischen<br />
Gründen ein Privatisierungsverbot,<br />
unser wichtigstes Anliegen, nicht im<br />
Gesetzesentwurf festschreiben. Wir<br />
haben aber Bedingungen in diesem Ent-<br />
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