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Meinen Sammlelort am S-<strong>Bahn</strong>hof<br />
Charlottenburg, nahe der Einkaufsmeile<br />
Wilmersdorfer Straße, betreute ich mit<br />
Freunden oder alleine, mit wenigen Ausnahmen<br />
immer freitags zwischen 10 und<br />
12 Uhr. Ausgestattet mit einem vor die<br />
Brust gehängten großen Plakat „VOLKS-<br />
BEGEHREN Rettet die S-<strong>Bahn</strong> <strong>Berlin</strong>“, einem<br />
Stapel Flugblätter und dem absolut<br />
notwendigen Klemmbrett mit Unterschriftenlisten,<br />
stand ich vor dem S-<br />
<strong>Bahn</strong>-Ausgang, den Fahrgäste benutzen,<br />
die zum Übergang zur U 7, zur Wilmersdorfer<br />
Straße oder sonst wohin wollen.<br />
Oft war ich Auskunftsperson. Aus dem<br />
<strong>Bahn</strong>hof strömen nicht nur <strong>Berlin</strong>er,<br />
sondern auch viele Touristen. Die fragten<br />
nach dem Weg zum Schloss Charlottenburg,<br />
nach bestimmten Straßen, nach<br />
dem Regionalbahnhof oder nach einer<br />
Toilette. Bei der Frage nach dem U-<br />
<strong>Bahn</strong>-Eingang zitierte ich zur Belustigung<br />
der Vorbeigehenden oft Bully Buhlan,<br />
der in den fünfziger Jahren den<br />
Schlager „Immer an der Wand lang“<br />
sang. An genügend Wegweiser für Touristen<br />
hatte der Bezirk bei der Neugestaltung<br />
des Stuttgarter Platzes vor dem<br />
S-<strong>Bahn</strong>hof offenbar nicht gedacht.<br />
Meine recht laut vorgetragene Parole<br />
Lunapark21·extra 6/2012<br />
war stets „Rettet die S-<strong>Bahn</strong>, keine Privatisierung,<br />
Schluss mit dem Chaos bei<br />
der S-<strong>Bahn</strong> – es reicht! Unterstützen Sie<br />
unser Volksbegehren mit einer Unterschrift!“<br />
Manchen erzählte ich, dass ich<br />
nachts aufwachend diese Parole schreiend<br />
verkünden würde, was mir schon<br />
Probleme mit den Nachbarn eingebracht<br />
hätte. Dieser Scherz brachte viele Stimmen<br />
ein und das Flugblatt wurde mir<br />
bereitwillig abgenommen.<br />
Etliche Vorbeigehende waren der Meinung,<br />
dass die Privaten es besser könnten<br />
als der Staat, und leisteten keine<br />
Unterschrift. Andere glaubten die S-<br />
<strong>Bahn</strong> dadurch zu retten, dass sie mit ihr<br />
fahren. Einige fragten, ob der S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Betrieb aktuell gestört sei. Manche hielten<br />
mich für einen S-<strong>Bahn</strong>-Beschäftigten.<br />
Uniformierte <strong>Bahn</strong>mitarbeiter waren<br />
freundlich, aber nicht bereit, „im Dienst“<br />
zu unterschreiben. Als Sicherheitskräfte<br />
der <strong>Bahn</strong> fürchteten sie bei fortschreitender<br />
Privatisierung schlechtere Arbeitsbedingungen.<br />
Sie erklärten mir, ich<br />
dürfe eine imaginäre Linie nicht überschreiten<br />
– die Außenwand des S-<strong>Bahn</strong>-<br />
Damms („Immer an der Wand lang“).<br />
Selbstverständlich habe ich dieser Aufforderung<br />
entsprochen. Doch bisweilen<br />
regnete es und ich habe mich zum<br />
Schutz in den S-<strong>Bahn</strong>-Bereich begeben<br />
müssen. Flugblätter und Unterschriftenlisten<br />
sollten trocken bleiben.<br />
Ältere Fahrgäste erzählten von 1945,<br />
Der <strong>Berlin</strong>er S-<strong>Bahn</strong>-<strong>Tisch</strong><br />
richte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrungsberichte von Unterschriftensammlungen>>> Erfahrung<br />
Mit Humor<br />
geht’s besser<br />
Ulrich Thom<br />
als die Bomben die S-<strong>Bahn</strong>-Strecken in<br />
einer Nacht erheblich beschädigt hätten,<br />
aber am nächsten Morgen die <strong>Bahn</strong> unter<br />
Einsatz der Bürger wieder normal<br />
fuhr. Überhaupt waren ältere Frauen und<br />
Männer eher geneigt zu unterschreiben<br />
als Jüngere, die gutgekleidet vorbei hasteten.<br />
Junge Frauen und Männer aus<br />
dem eher alternativen Spektrum unterschrieben<br />
stets. Hatte ich sie überzeugt,<br />
versüßte ich ihre Unterschriftsleistung<br />
mit einer Bemerkung zu meinem roten<br />
Kugelschreiber, auf dem drei Buchstaben<br />
einer in <strong>Berlin</strong> schon lange regierenden<br />
Partei vermerkt waren. Der obere Teil sei<br />
zu drehen, aber bei diesem Kugelschreiber<br />
– wie bei der Partei – wisse man nie,<br />
in welche Richtung zu drehen sei, ob<br />
nach rechts oder nach links. Dieser<br />
Scherz wurde meist durch schallendes<br />
Lachen kommentiert.<br />
Sammelten wir zu zweit, nutzen Unterschriftswillige<br />
oft den Abstand zum<br />
Kollegen, das von mir erhaltene Flugblatt<br />
zu lesen und waren dann fast<br />
immer bereit, zu unterschreiben. Sehr<br />
wichtig schien mir die fast penetrante<br />
Wiederholung der Parole und die regelmäßige<br />
Anwesenheit am selben Ort zu<br />
sein. Oft hörte ich: „Sie waren doch<br />
schon letzte Woche hier!“ Es ist nicht<br />
leicht, fremde Menschen von der Wichtigkeit<br />
eines Anliegens auch für sie<br />
selbst zu überzeugen. Humor erzeugt<br />
auch nicht in jedem Falle Zustimmung,<br />
erleichtert sie aber ungemein.<br />
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