Kulturnotizen - Druckservice HP Nacke KG
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ganzen Tag durch das Fenster im fünften<br />
Stockwerk nach unten zu blicken, auf die<br />
Leute, die vorbeigingen, auf die Kleingärten,<br />
auf den grünen Ludwigs-Donau-Main-<br />
Kanal, in dem ich schon oft auf dem Rücken<br />
meines Vaters geschwommen war.<br />
Als ihre Schmerzen abgeklungen waren,<br />
gingen wir in unser kleines Einfamilien-<br />
Reihenhaus zurück. Aber meine Mutter<br />
hatte jetzt einen Herzklappenfehler, der sie<br />
für ihr Leben zu einem Herzkrüppel machte.<br />
Das hat sie nicht daran hindern können,<br />
ihr Leben lang zu arbeiten, daheim, im<br />
Krieg als Leiterin eines Fischgeschäfts, und<br />
stets im lebhaften Kontakt mit Freundinnen<br />
und Bekannten. Mein Vater war treu,<br />
aber mürrisch, die Leute verstanden jedoch<br />
auf dem Umweg über sie, dass er liebenswert<br />
war.<br />
Als Kindermädchen in den Zwanziger Jahren<br />
hatte sie nur einen Abend in der Woche<br />
frei, und da ging sie ins Kino. Ein Wunder,<br />
dass sie einen Mann fand, das wurde mein<br />
Vater. Aber eigentlich mussten sie sich immer<br />
schon gekannt haben, so kam es mir<br />
vor.<br />
Nicht, dass sie es mir so ausführlich erzählt<br />
hatte, aber ich kannte ihre Vergangenheit<br />
als wäre es meine aus vielen, kurzen Erwähnungen.<br />
Ich sehe sie noch heute vor mir als<br />
barfüßiges Mädchen in der Oberpfalz. Sie<br />
hat im Wald mit anderen Kindern Beeren<br />
gesammelt, da kommt der Förster heran.<br />
Die Kinder stellen sich an den Wegrand<br />
und grüßen aufmerksam.<br />
Barfuß geht sie in die Klosterschule. Wenn<br />
sie geschwatzt hat, muss sie die Hände ausstrecken,<br />
und die Ordensschwester schlägt<br />
mit einem Stock darauf. Sie wohnt mit der<br />
Mutter bei der Tante, bis die Mutter einen<br />
Mann fi ndet, der sie heiratet. Er ist Porzellanmaler<br />
und lernt sie in der Porzellanfabrik<br />
kennen, wo sie als Packerin arbeitet.<br />
In der Schule bekommt meine Mutter,<br />
das uneheliche Kind, in jedem Fach eine<br />
Eins, nur nicht im Singen. Zwar singt sie<br />
hingebungsvoll, am liebsten das Lied von<br />
der Gärtnersfrau, die weint, aber angeblich<br />
stimmen die Töne nicht. Als die Schulzeit<br />
zu Ende geht, möchte der Lehrer sie auf ein<br />
Lehrerseminar schicken, aber der Pfarrer ist<br />
dagegen. Ihm missfällt, dass der Stiefvater,<br />
ein Sozi, inzwischen Vorstand im Konsumverein<br />
geworden ist, und außerdem ist<br />
sie ein uneheliches Kind, das immer erst<br />
beliebt sein muss, ehe es so mitmachen darf<br />
wie alle anderen. Also wird nichts daraus,<br />
sie muss in die Fabrik.<br />
Das alles scheint nicht zu schaden. Sie ist<br />
und bleibt ein fröhlicher Mensch, der über<br />
alles in der Welt Bescheid weiß, und zwar<br />
von Natur aus. Was sie nicht erfährt oder<br />
liest, denkt sie sich aus.<br />
So war auch ihre Mutter. Die hat schon<br />
Preise gewonnen für Werbeverse, die sie bei<br />
Wettbewerben von Firmen eingesandt hat.<br />
Großmutters Vorfahren machten zwar keine<br />
Verse, aber sie zogen mit dem Malersack<br />
auf dem Rücken von Kloster zu Kloster<br />
und boten ihre Kunst an. In manchen<br />
Klöstern der Oberpfalz ist sie heute noch<br />
zu sehen.<br />
Meine Mutter bleibt nicht lange Packerin,<br />
sondern geht als Kindermädchen zu einer<br />
Fabrikantenfamilie in die Großstadt. An<br />
einem Kino-Abend, dem einzig möglichen<br />
in der Woche, lernt sie ihren Mann<br />
kennen. Er hat schon früh seine Haare<br />
verloren, aber er hat blitzende Zähne, einen<br />
Bausparvertrag und ist ein zuverlässiger<br />
Maschinenschlosser. So beginnt das nächste<br />
große Abenteuer ihres Lebens. Schon bald<br />
lernt sie noch einen wichtigen Menschen<br />
kennen, nämlich mich.<br />
Ich erlebe nichts, was sie nicht miterlebt.<br />
Ich bin das einzige Kind, und sie ist nun auf<br />
lange Jahrzehnte hin nur Hausfrau in einem<br />
kleinen Haushalt, und dazu noch krank;<br />
mein Leben ist ihre Zukunft, und ihre Unternehmungen<br />
gipfeln im Umräumen von<br />
Schränken oder in Koch-Experimenten.<br />
Und dennoch sehe ich heute, dass sie es<br />
weit gebracht hätte, wenn sie auch nur die<br />
geringste Chance gehabt hätte.<br />
Ich hatte die Überzeugung, dass ich der<br />
Einzige war, der ihr Herz besaß. Mein<br />
Vater war ein stiller Mann, der meistens<br />
etwas gekränkt wirkte. Meine Überzeugung<br />
wurde nicht dadurch beeinträchtigt, dass<br />
ich sie und ihn sonntagmorgens fröhlich<br />
schwatzend nebeneinander im Doppelbett<br />
liegen sah, dass sie sonntags zusammen<br />
spazieren gingen, dass sie Abend für Abend<br />
in der kleinen Dachkammer beieinander<br />
waren. Das schien mir so selbstverständlich<br />
wie der Sonnenaufgang und es beeinträchtigte,<br />
wie gesagt, meine Überzeugung nicht.<br />
Es machte die Welt ein wenig sicherer. In<br />
Krankheitsphasen war ich freilich immer<br />
der Erste, der den Arzt holte oder sie später<br />
bei Herzanfällen ins Krankenhaus schaffte.<br />
Aber wir waren freilich auch Rivalen, der<br />
Vater und ich. Ich war der bessere Beschützer,<br />
glaubte ich, tat mehr für sie, beschützte<br />
sie tatsächlich auch nicht selten vor seiner<br />
Ruppigkeit und Rücksichtslosigkeit. Bis in<br />
die Nachkriegsjahre teilte er ihr das Wirtschaftgeld<br />
zu. Es bedurfte langer Verhandlungen,<br />
bis ich ein paar neue Schuhe bekam.<br />
Aber ich sah auch nicht, dass er der getreue,<br />
stille Eckehart war, der bescheidene Mann,<br />
der auf Auseinandersetzungen mit dem besserwisserischen<br />
Sohn verzichtete. Er hätte<br />
mit bescheideneren Mitteln auf geduldige<br />
Art auch für sie gesorgt.<br />
Ich war ein Muttersohn, jedoch einer, der<br />
das tat, was er für richtig hielt oder nicht<br />
lassen konnte, aber schließlich doch der<br />
Sohn meiner Mutter, der von ihr das Leben<br />
gelernt hatte.<br />
Es kam der Zweite Weltkrieg. Der Sohn<br />
blieb für viele Jahre weg, der Mann blieb<br />
da. Die Stadt wurde zerbombt, Tausende<br />
starben. Die verbrannten und geschrumpften<br />
Leichen lagen am Straßenrand, der<br />
Mann musste zum Aufräumkommando.<br />
Sie leitete ein kleines Fischgeschäft. Manche<br />
Freunde berichteten später von dem einen<br />
oder anderen kleinen Fisch, den sie ihnen<br />
zugesteckt hatte.<br />
Und dann, nach vielen Jahren, hatte sie<br />
wieder einmal einen richtig lebensbedrohenden<br />
Anfall. Wasser hatte sich im<br />
Lungenraum angesammelt. Sie verdrehte<br />
die Augen und verlor das Bewusstsein. Der<br />
Sohn rannte im Laufschritt drei Kilometer<br />
weit, um den Arzt zu holen. Im Hause hatte<br />
damals niemand Telefon.<br />
Das Krankenhaus hatte keinen Platz, aber<br />
für einen Privatpatienten eben doch. Der<br />
Sohn hatte einige Hundert Mark Erspartes,<br />
die reichten und verschafften ihr einen völlig<br />
anderen sozialen Status. Chefarzt und<br />
Oberärztin standen lächelnd an ihrem Bett,<br />
Schwestern verwöhnten sie, und gerettet<br />
war sie auch. Eine lange Periode der Unsterblichkeit<br />
lag vor ihr, dem Mann und<br />
dem Sohn, die Sonne strahlte in das helle<br />
Krankenzimmer. Als sie wieder in ihre Wohnung<br />
zurückkehrte, sagte die Nachbarin zu<br />
ihr: „Für Geld blasen sie dir Zucker in´n<br />
Arsch.“<br />
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