Wichtig ist auch: Der <strong>Widerstand</strong> hatte e<strong>in</strong>elange Vorlaufzeit, die vorausschauend dafürgenutzt worden war, die PatientInnen <strong>in</strong> denKrankenhäusern <strong>und</strong> Ambulanzen, dieÄrztInnen <strong>und</strong> die Angestellten des öffentlichenGes<strong>und</strong>heitswesens über die Konsequenzen dergeplanten Privatisierung aufzuklären. Nurdadurch war es möglich, dass die Menschen sich(sche<strong>in</strong>bar spontan) mit den Streikenden solidarisierten<strong>und</strong> ihr Interesse an e<strong>in</strong>er sofortigenBehandlung ihren langfristigen Interessenunterordneten. Hier wird die Bedeutung des <strong>in</strong>Late<strong>in</strong>amerika weitverbreiteten Konzepts dereducación popular deutlich: E<strong>in</strong>e Strategie vonpolitischen Organisationen, durch kont<strong>in</strong>uierlicheBildungs- <strong>und</strong> Informationsprogramme e<strong>in</strong>esoziale Basis <strong>in</strong> der Bevölkerung zu schaffen<strong>und</strong> dadurch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en anhaltenden Dialog mitden Menschen zu treten.Im Falle von San Salvador Atenco (Mexiko) 3schien es auch e<strong>in</strong>e eher spontaneSolidarisierung zu se<strong>in</strong>, die ausschlaggebend fürden Erfolg war. Die breite Unterstützung ließsich auch durch e<strong>in</strong>e Diffamierungskampagneder Regierung nicht irritieren.Bei genauerem H<strong>in</strong>sehen ist die Solidarisierungso spontan aber auch nicht gewesen.Die Bezugnahme der kämpfenden campes<strong>in</strong>os/asauf Zapata ist e<strong>in</strong>e Referenz auf das historischeVorbild der mexikanischen Revolution <strong>und</strong>zugleich auf die aktive Rebellion der chiapanekischenZapatistas. Sie belegt, wie <strong>in</strong> Mexikospolitischer Kultur e<strong>in</strong>e Tradition kle<strong>in</strong>bäuerlicherKämpfe über lange Zeit lebendig gehaltenwurde, die auch auf Menschen <strong>und</strong> Gruppenausstrahlt, die selber ke<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>bauern s<strong>in</strong>d.Der entscheidende Faktor für die Unerbittlichkeit<strong>und</strong> Radikalität des <strong>Widerstand</strong>es,welche die Regierung schließlich <strong>in</strong> die Kniezwang, war sicher die existentielle Bedrohungfür die Menschen von San Salvador Atenco. Aberauch Organisationen, die sich auf Verhandlungen<strong>und</strong> Kompromisse e<strong>in</strong>lassen, begründendiesen Schritt oft mit e<strong>in</strong>er existentiellen Bedrohung.Die reale Bedrohung, alles zu verlieren,lässt also sowohl die Option unerbittlichen<strong>Widerstand</strong>es als auch die des Verhandelns zu.Welche Wahl die Menschen treffen, hängtschließlich von e<strong>in</strong>er politischen E<strong>in</strong>schätzungab, <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>e Reihe von Faktoren e<strong>in</strong>fließen:Das eigene politische Gewicht, die eigeneMobilisierungsfähigkeit <strong>und</strong>/oder Verhandlungsmacht,die E<strong>in</strong>schätzung der Stärke des politischenGegners <strong>und</strong> nicht zuletzt auch die politischenTraditionen des sozialen <strong>Widerstand</strong>s <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er bestimmten Region oder sozialen Gruppe.Manchmal gel<strong>in</strong>gt es sogar, dass aus dem,was ursprünglich e<strong>in</strong> Verteidigungskampf gegenneoliberale Herrschaftsprojekte war, etwasentsteht, das größer <strong>und</strong> beständiger ist. Daskann der Versuch se<strong>in</strong>, zunächst zu e<strong>in</strong>emKonsens über die Alternativen zu kommen, diees zur kapitalistischen Ordnung geben könnte.Oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ersten Schritt diese Ordnung <strong>und</strong>ihre Werte zu h<strong>in</strong>terfragen: Die Plünderungen,„Ne<strong>in</strong> zum <strong>Freihandel</strong>svertrag mit den USA, denner bedeutet mehr Armut <strong>und</strong> Ungleichheit.“die auf die Wirtschaftskrise <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ienfolgten, stellten ganz praktisch <strong>in</strong> Frage, ob dasRecht auf Privateigentum über dem Recht aufNahrung <strong>und</strong> e<strong>in</strong> würdiges Leben steht.Im nächsten Schritt stellt sich möglicherweisedie Frage, wie Produktions- <strong>und</strong> politischeEntscheidungsformen aufgebaut werden können,die sich der Verwertungslogik entziehen. InChiapas/Mexiko geht die Rebellion weit übere<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e, militante Ablehnung h<strong>in</strong>aus: DieZapatistas versuchen, jenseits der Eroberung derStaatsmacht e<strong>in</strong>e neue Form von Vergesellschaftungzu entwickeln. Diese soll basisdemokratisch<strong>und</strong> transparent se<strong>in</strong>. In den caracoles –seit Sommer 2003 existierenden autonomenProv<strong>in</strong>z-“Hauptstädten“ – f<strong>in</strong>den Versammlungender „Guten Regierung“ 4 statt. Diese setzen3Siehe Artikel: „Dergeplante Flughafen wurdenicht gebaut“ <strong>in</strong> diesemHeft, Seite 494Der Begriff spielt an aufden zapatistischen Begriffdes „Mal Gobierno“, derschlechten mexikanischenZentralregierung.<strong>Freihandel</strong> <strong>und</strong> <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Zentralamerika</strong> | 55
sich zusammen aus Delegationen der zapatistischenBasis-Geme<strong>in</strong>den, die jederzeit abwählbar<strong>und</strong> unmittelbar rechenschaftspflichtig. Paralleldazu werden e<strong>in</strong> autonomes Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong>Bildungssystem aufgebaut. Gewiss haben diezapatistischen Indígenas <strong>in</strong> Chiapas den großenVorteil, dass ihre Art der Produktion traditionellkollektiv <strong>und</strong> nicht e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e kapitalistischeVerwertungslogik war <strong>und</strong> ist. Außerdemkönnen sie ihren politischen Konsens <strong>in</strong>relativ überschaubaren, kle<strong>in</strong>en <strong>und</strong> wenigausdifferenzierten sozialen Strukturen f<strong>in</strong>den.<strong>und</strong> wir...?Auch wenn es sich <strong>in</strong> den Trikont- <strong>und</strong> denIndustrieländern um gänzlich andere Ausgangsbed<strong>in</strong>gungenhandelt, gibt es überall gewisseÄhnlichkeiten <strong>in</strong> der Ausrichtung wirtschafts<strong>und</strong>sozialpolitischer Strategien: der SicherungIV. Mesoamerikanisches Treffen <strong>in</strong> Honduras im Juli 2003von Wirtschaftsstandorten werden gr<strong>und</strong>legende<strong>und</strong> e<strong>in</strong>st erkämpfte soziale Standards mit demArgument der Arbeitsplatzsicherung geopfert,die Deregulierung am Arbeitsmarkt, die Ausdehnungdes Warenbegriffes auf immer weitereBereiche (z.B. Gr<strong>und</strong>dienstleistungen wie Bildung<strong>und</strong> Wasser, Ges<strong>und</strong>heit, Biodiversität) <strong>und</strong>die Aufweichung sozialer Sicherungssystemes<strong>in</strong>d der lokale Ausdruck e<strong>in</strong>er Anpassung anglobale Standards, die nur noch den Marktgesetzenunterworfen s<strong>in</strong>d.Dieser Abwärtstrend wird zeitgleich unterfüttertvom Ausbau e<strong>in</strong>es globalen Migrationsregimes,dass dem Kapital das freie Flutenerleichtert <strong>und</strong> die Bewegung der (arbeitenden)Menschen kontrolliert <strong>und</strong> e<strong>in</strong>schränkt. Sowerden Regionen mit unterschiedlichen Lohnniveaus<strong>und</strong> Umweltstandards gegene<strong>in</strong>anderausgespielt, immer mit dem Trend zur Absenkungdes Niveaus zugunsten höherer Gew<strong>in</strong>nspannen.Denn das immer unverschämtereLohndump<strong>in</strong>g kann nur durchgesetzt werden,solange die Möglichkeit des Kapitals, anderswogew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gender zu <strong>in</strong>vestieren, ausgebaut <strong>und</strong>abgesichert wird. E<strong>in</strong> regional gestaffeltesLohnniveau <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e globale Arbeitsteilung istdafür absolut funktional.In dieser Dynamik leben wir auch <strong>in</strong> Mitteleuropa/<strong>in</strong>Deutschland. Mit dem Argument,der Standort müsse auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigse<strong>in</strong>, werdenLöhne gedrückt,öffentliche Betriebeprivatisiert, Lohn-“Neben“-kostengesenkt <strong>und</strong> sozialeSicherungssystemeaufgeweicht. DerDruck, auch nochunter den unwürdigstenBed<strong>in</strong>gungenzu arbeiten, steigtmit den verschärftenZumutbarkeitskriteriender Arbeitsmarktreforman. Rationalisierungen,das heißt„Freisetzung überschüssigerArbeitskraft“,werden denUnternehmen erleichtert– immermit dem H<strong>in</strong>weis,dass andernfalls dasUnternehmen woanders<strong>in</strong>vestieren könnte.Parallel wird europaweit an e<strong>in</strong>er Abstimmungvon Zuwanderungskriterien gearbeitet<strong>und</strong> die Rechte von Flüchtl<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> MigrantInnennach unten angeglichen. Das neue Zuwanderungsgesetzder rot-grünen Regierungselektiert E<strong>in</strong>wanderInnen nach Nützlichkeitskriterien<strong>in</strong> „erwünschte“ <strong>und</strong> „unerwünschte“.Insofern können <strong>in</strong> Deutschland die neoliberalenArbeits- <strong>und</strong> Sozialreformen der Agenda201056 | <strong>Freihandel</strong> <strong>und</strong> <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Zentralamerika</strong>