Naturwissenschaftliche Erkenntnis und gesellschaftliche Interessen (II)

304
Besprechungen
nis anschaulich zu machen. Eine Vielfalt von Darstellungsformen
wird eingesetzt: historische Rückblicke, aktuell-politische Kommentare,
Porträts von Persönlichkeiten, autobiographische Passagen,
fiktive Geschichten und Szenen wechseln einander ab und werden
verbunden zur Besichtigung der Epoche.
Die Entstehungszeit 1943/44 prägt das Buch. Die Kritik des deutschen
Faschismus, seiner großindustriellen Hintermänner durchzieht
die Darstellung. Heinrich Mann, seit seiner Emigration im Februar
1933 einer der bedeutendsten Repräsentanten des deutschen Antifaschismus
und Vorkämpfer der Einigung aller Hitlergegner, seit
Konstituierung des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen
Volksfront 1936 dessen Vorsitzender und in dieser Funktion wie in
anderen unermüdlich tätig, faßt im „Zeitalter" nicht nur seine
Auffassungen über Genese und Wesen des deutschen Faschismus
zusammen, sondern betont zugleich die politisch-moralische Überlegenheit
der Anti-Hitler-Koalition aus Sowjetunion und Westalliierten
und sagt ihren militärischen Sieg voraus.
Mit dem bevorstehenden Ende des Faschismus wird für Heinrich
Mann das besichtigte Zeitalter abgeschlossen werden — „dies Zeitalter
kommt zum Schluß und Übergang" (485). Diesen Übergang
„nach neuen besseren Zuständen der Menschen und Dinge" (302)
erkennt der Autor vor allem in der Sowjetunion: „Ein neuer Mensch,
ein anderes Zeitalter nehmen ihren Anfang hier" (509). Heinrich
Mann, der lange Jahre in der Französischen Revolution und ihren
Folgen das Vorbild seiner literarischen und politischen Tätigkeit
gesehen hatte, erkennt seit den antifaschistischen Erfahrungen der
dreißiger Jahre, daß in der Oktoberrevolution das Erbe der bürgerlichen
Revolution aufgehoben wird: „ . . . hat die alte Revolution ihre
volle Gegenwart wiedererlangt — bei der neuen, die sie fortsetzt.. .
Sie haben die Französische Revolution nicht nachgeahmt; in ihrer
selbstgewachsenen, ihnen auferlegten haben sie versucht, die Fehler
der Vorgängerin zu ertappen und ihnen zuvorzukommen... Eine
neue Revolution wird sich sozialistisch nennen . . . " (37, 33). Das Bekenntnis
zur bürgerlich-revolutionären Vergangenheit wird also
verbunden mit dem zur proletarisch-revolutionären Zukunft. Der
Übergang Heinrich Manns vom bürgerlichen zum sozialistischen
Humanismus, dessen einzelne Schritte sich in den antifaschistischen
Streitschriften und Essays der dreißiger Jahre nachverfolgen lassen,
ist beim Schreiben des „Zeitalter" abgeschlossen; das Buch ist gerade
darum von großer Bedeutung, weil es die Ergebnisse dieser
Entwicklung enthält.
Grundlage von Heinrich Manns Bekenntnis zum Sozialismus ist
nicht ein dialektisch-materialistisches Weltbild — „das Geistige"
wird auch im „Zeitalter" als „das Primäre" angesehen, „es hat in der
Geschichte den Vortritt" (193). Das „Geistige" wird aber ebenso wie
die zentralen Begriffe „Sittlichkeit" und „Moralität" rigoros politisch
gefüllt und, so verstanden, zum Gradmesser der humanisti-
DAS A R G U M E N T 96/1976 ©