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Naturwissenschaftliche Erkenntnis und gesellschaftliche Interessen (II)

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382<br />

Besprechungen<br />

des Selektionswerts einer organischen Struktur erklärt zwar, warum<br />

die betreffende Art sich in der Evolution hat durchsetzen können,<br />

nicht aber den Mechanismus ihrer (autonomen) Morphogenese. Die<br />

Biologie steht heute bei der Erforschung der inneren Entwicklungsgesetzmäßigkeiten<br />

organischer Gestaltungen erst am Anfang. Im<br />

Rahmen der als gesichert geltenden „Annahme, daß sich das Leben<br />

allmählich aus einfachsten Stufen zu höheren Gestalten entwickelt<br />

hat" (74), kann es sich also mit jeder neuen <strong>Erkenntnis</strong> auf diesem<br />

Gebiet als notwendig erweisen, auch „für Teilprobleme der Evolutionslehre<br />

die Aufgabe einer Synthese <strong>und</strong> ihrer Erneuerung zu<br />

leisten" (75), wie Portmann zu Recht bemerkt.<br />

Wenn Portmann sich dann aber, anstatt von seinem Standpunkt<br />

Aufgaben für die weitere Erforschung vor allem der molekularen<br />

Prozesse der Morphogenese zu formulieren, zurückzieht auf die ehrfürchtige<br />

Kontemplation einer „rätselhaften verborgenen Innerlichkeit",<br />

die sich „im Äußeren in ihrer Eigenart" als „Selbstdarstellung"<br />

des Organismus manifestiere (138), so transformiert er damit die<br />

wissenschaftlich legitime Haltung, auf noch Unerklärtem als Problem<br />

zu insistieren, genau in ihr Gegenteil: in eine letztlich wissenschaftsfeindliche<br />

Ideologie des Staunens vor dem Geheimnisvollen.<br />

Jenseits von „christlicher Heilslehre" <strong>und</strong> „positivistischer Naturforschung"<br />

(227) versucht Portmann ein Menschenbild biologisch zu<br />

rekonstruieren, dessen Wurzeln sich einerseits aus der Analyse organischer<br />

Gestalten mit ihrer Nähe zum phänomenologischen Gestaltismus<br />

nähren, andererseits aus dem Irrationalismus rückwärtsgewandter<br />

Sozialutopien angesichts der Möglichkeiten <strong>und</strong> Drohungen<br />

der „modernen Technik". Diese beiden Momente fließen zusammen<br />

in dem von Portmann gezeichneten Bild vom „Theater des Lebens",<br />

angesichts dessen zwei Standorte eingenommen werden können:<br />

der Standort hinter der Bühne, dem es um die verborgenen Mechanismen<br />

des „Lebensspiels" zum Zwecke seiner Beherrschung geht,<br />

<strong>und</strong> der Standort des Beschauers, dem es auf das Erleben seiner Gestalten<br />

ankommt. Von letzterem Standpunkt aus plädiert Portmann<br />

für eine „mächtig erneuerte wahre Naturfreude" (254), welche gegen<br />

die vorherrschende „Biotechnik", die mit ihrer Ausrichtung auf die<br />

Produktion von „Herrschaftswissen" „uns vor die äußerste Bedrohung<br />

unseres Daseins geführt hat", jene „innere Umstimmung des<br />

Geistes der Naturforschung" hervorbringen soll, die ein „Heilswissen<br />

erstrebt, das unser gefährdetes Leben wieder menschenwürdig macht"<br />

(229). Daß er seine Vorstellungen unbelastet von jeder <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Standortbestimmung des Wissenschaftlers entwickelt <strong>und</strong> ihm<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong> Charakter des Wissenschaftsprozesses ganz aus<br />

dem Blickfeld bleibt, macht dieses liebevoll geschriebene Buch zu<br />

einem Manifest der Ausweglosigkeit einer ehrlichen humanistischen<br />

Haltung, der ein zutiefst konservatives, ungeschichtliches <strong>und</strong> un<strong>gesellschaftliche</strong>s<br />

Menschenbild entspricht.<br />

DAS A R G U M E N T 96/1976 ©<br />

Hans-Jörg Rheinberger (Berlin/West)

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