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30 TIPPS<br />
<strong>Das</strong> <strong>Stadtgespräch</strong><br />
Umbruch. Auch Scout selbst hat<br />
sich verändert und nimmt die Menschen<br />
ihrer Umgebung nunmehr<br />
mit ganz anderen Augen wahr. <strong>Das</strong><br />
gilt auch und besonders für ihren<br />
geliebten Vater, dessen Kodex »simple<br />
neutestamentarische Ethik« ist.<br />
Dennoch geht er zu Veranstaltungen<br />
des Ku-Klux-Klans und hält<br />
die NAACP (nationale Vereinigung<br />
zum Wohle farbiger Menschen) für<br />
die Vorbotin des Untergangs der<br />
USA. Scout merkt, dass Atticus, der<br />
mittlerweile auch körperlich nachgelassen<br />
hat, denn er ist in seinen<br />
Siebzigern, in einer Art Rassismus<br />
für gebildete Leute befangen ist.<br />
Vom Inhalt her eignet sich der Roman<br />
also nicht mehr besonders als<br />
Bürgerrechtsplädoyer, als Gesellschaftsroman<br />
ist er aber durchaus<br />
interessanter als der Millionenbestseller.<br />
Harper Lee hat scharf<br />
beobachtet und gibt Szenen aus<br />
dem damaligen Umfeld, das heute<br />
längst Geschichte ist, mit großer<br />
Treffsicherheit wieder. Auch<br />
die Szenen aus der Kindheit und<br />
Jugend der Protagonistin zeigen<br />
sicheres Gespür für den richtigen<br />
Ton. Wer weiß, vielleicht hätte Harper<br />
Lee tatsächlich die Jane Austen<br />
des südlichen Alabama werden<br />
können, wie sie einmal eher im<br />
Scherz angab, wenn sie nur weiter<br />
geschrieben hätte. Erschienen ist<br />
der Roman bei der DVA, 317 Seiten,<br />
19,99 Euro. Auch eine Hörbuchausgabe<br />
ist beim Hörverlag erschienen.<br />
Die vollständige Lesung dauert siebeneinhalb<br />
Stunden, Nina Hoss ist<br />
die Idealbesetzung für Scout, aus<br />
deren Perspektive auch dieser Roman<br />
geschrieben ist.<br />
DER DVD-TIPP<br />
Frau Müller muss<br />
weg!<br />
Bei der Bildung ist es noch schlimmer<br />
als beim Fußball, wenn es um<br />
Expertentum geht. Während beim<br />
Fußball nur rund die Hälfte der Bevölkerung<br />
mindestens so viel Ahnung<br />
hat wie der Bundestrainer,<br />
weil sie ja schließlich irgendwann<br />
einmal an einen Ball getreten hat,<br />
liegt die Expertenquote zum Thema<br />
Schule bei exakt 100 Prozent.<br />
Schließlich war jeder in der Schule<br />
und das auch noch lange. Also hat<br />
auch jeder eine Meinung.<br />
Daraus folgt aber nun keineswegs,<br />
dass Filme über Schule<br />
automatisch von kommerziellem<br />
oder auch nur ideellem Erfolg<br />
gekrönt sein müssen. Einen Film<br />
mit dem Thema Schule zu machen<br />
birgt im Gegenteil ein recht hohes<br />
Risiko. Es ist schwierig, heute<br />
noch einen Paukerfilm mit lustigen<br />
Lausbubenstreichen unter die<br />
Leute zu bringen, das Genre war<br />
im Grunde schon zu Zeiten, als<br />
Theo Lingen noch der klassische<br />
Schulleiter war, recht angestaubt.<br />
Durchaus belebt hat das Genre<br />
»Fack ju Göhte«, wenn man auch<br />
dem Film nicht vorwerfen kann,<br />
dass er allzu realistisch ist. Aber<br />
sehr komisch eben. <strong>Das</strong> liegt an<br />
der brachialen Pädagogik des falschen<br />
Lehrers und echten Knackis.<br />
<strong>Das</strong> »Chantal, heul leise« ist heute<br />
nahezu legendär. Der zweite Teil<br />
ist gerade in den Kinos angelaufen.<br />
Frau Müller muss weg! ist ein anderer<br />
Film und könnte ein ganz<br />
anderes Kaliber sein, wenn nicht<br />
der zweite Teil des Streifens stellenweise<br />
zur Slapstick-Komödie<br />
geraten würde. Im Ansatz ist<br />
der Film von Sönke Wortmann<br />
durchaus kritisch, greift er doch<br />
ein Phänomen auf, das es bis vor<br />
wenigen Jahren in dieser massiven<br />
Form nicht gab, das der sogenannten<br />
»Helikopter-Eltern«. Diese<br />
schweben wie die Hubschrauber<br />
ständig über ihren lieben Kleinen,<br />
damit denen bloß nichts passiere.<br />
Sie werden so nah wie möglich<br />
ans Schulgebäude gebracht, vorzugsweise<br />
im fetten SUV, damit<br />
der Nachwuchs bloß nicht auch<br />
nur einen Schritt zu viel tun muss.<br />
Wenn sich die Kinder eine Schramme<br />
auf dem Schulhof holen, werden<br />
der aufsichtsführende Lehrer,<br />
der Klassenlehrer, die Schulleitung,<br />
der Schulsozialarbeiter, der<br />
Schulpsychologe sowie natürlich<br />
die Schulaufsichtsbehörde zur Rechenschaft<br />
gezogen. Wenn dann<br />
nicht sofort alle Hebel in Bewegung<br />
gesetzt werden, landet das<br />
Ganze mit Hilfe des Familienanwalts<br />
vor dem Kadi! O.k., da habe<br />
ich etwas übertrieben, aber Sie<br />
wissen, was ich meine.<br />
Die Eltern in dieser Komödie sind<br />
durchaus unterschiedliche Typen<br />
(und nur um solche geht es<br />
ja in einer Komödie meist), aber<br />
in einem sind sie sich einig: Frau<br />
Müller muss weg! Frau Müller<br />
ist die Grundschullehrerin einer<br />
vierten Klasse. Ihre Notengebung<br />
entscheidet über das Wohl und<br />
Wehe der Kinder, meinen jedenfalls<br />
die Eltern. Und das Wohl kann<br />
selbstverständlich nur bedeuten,<br />
dass die Kinder eine Empfehlung<br />
für das Gymnasium bekommen.<br />
Da sich anzudeuten scheint, dass<br />
Frau Müller, dargestellt von Gabriela<br />
Maria Schmeide, schlechte<br />
Noten für nachlassende Leistungen<br />
gibt, sind die Eltern unter Führung<br />
von Karrierefrau Jessica Höfel<br />
(eine brillante Anke Engelke) zu<br />
dem Entschluss gekommen, die<br />
Lehrerin zu einem außerordentlichen<br />
Elternabend antanzen zu lassen,<br />
um sie dazu zu bringen, die<br />
Klasse abzugeben. Die ganze Aktion<br />
geschieht natürlich im Auftrag<br />
aller Eltern, die, ebenso natürlich,<br />
das entsprechende Schreiben mit<br />
unterschrieben haben. Doch dann<br />
läuft der Elternabend ganz anders<br />
ab, als sich das alle vorgestellt<br />
haben. Schnell wird klar, dass es<br />
den einzelnen nicht so sehr, beziehungsweise<br />
überhaupt nicht, um<br />
das Wohl der ganzen Klasse geht.<br />
Es dreht sich allein um die eigenen<br />
Kinder – und die sind offenbar<br />
nicht so perfekt, wie sich das die<br />
Eltern gewünscht haben und wie<br />
das die Eltern den anderen Eltern<br />
und der Lehrerin gegenüber darzustellen<br />
versuchen. Schon bald<br />
fallen die Masken und das, was<br />
man dann zu sehen bekommt,<br />
zeugt keineswegs von hehren<br />
Motiven.<br />
Und darin liegt in erster Linie der<br />
Reiz des Films, denn jeder, der<br />
schon einmal einen etwas wenig<br />
harmonischen Elternabend miterlebt<br />
hat, wird Leute wiedererkennen,<br />
die sich tatsächlich fast so<br />
verhalten wie die Figuren im Film.<br />
Und vielleicht erkennt man gar,<br />
dass man selbst auch die Züge in<br />
sich hat, die in den bitterbösen<br />
Momenten des Films dargestellt<br />
werden – auch wenn es schließlich<br />
ehrenhaft ist, dass man für seine<br />
Kinder wie eine Löwin kämpft.<br />
<strong>Das</strong> Genre Gesellschaftskomödie<br />
bewahrt den Zuschauer aber<br />
davor, dass die durchaus ernste<br />
Problematik allzu ernsthaft dargestellt<br />
ist. Am Ende bekommt<br />
keiner sein Fett so richtig weg, am<br />
wenigsten die Lehrerin. Und auch<br />
das Problemfeld Ossi-Wessi, der<br />
Film spielt in Dresden, obwohl keiner<br />
so spricht, wird eher von seiner<br />
humoristischen Seite behandelt.<br />
Auch wenn der Ȋsthetische<br />
Reiz und der Erkenntnisgewinn«<br />
(Spiegel-Kritik) schon der Vorlage<br />
zum Film, das Theaterstück von<br />
Lutz Hübner, zugegebener Weise<br />
nicht die Dimension eines Shakespeare<br />
oder Goethe (ich wollte den<br />
Namen doch einmal richtig schreiben)<br />
erreicht, ist Frau Müller<br />
muss weg! doch eine sehenswerte<br />
Komödie.