2015-03
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Unterhaltung<br />
Geteilte Freude<br />
Ein Siegerländer Märchen<br />
Es war nach dem Ersten Weltkrieg, so erzählte mir<br />
mein Großvater auf einem unserer zahlreichen Spaziergänge,<br />
da wohnten in einem Siegerländer Dorf<br />
zwei Brüder. Der Ältere von ihnen war unverheiratet und<br />
wohnte alleine im elterlichen Haus, denn die Eltern waren<br />
kurz nach dem Kriege, als beide Söhne aus der Kriegsgefangenschaft<br />
heimgekehrt waren, gestorben. Der Jüngere<br />
hatte ein Nachbarsmädchen geheiratet, hatte zwei Kinder<br />
und wohnte im Hause seiner Frau, das diese von ihren Eltern<br />
übernommen hatte.<br />
Es war nach dem Kriege eine wirtschaftlich schlechte<br />
Zeit und beide Brüder waren oft arbeitslos und mussten<br />
sich mühsam von ihren kleinen Landwirtschaften ernähren,<br />
dazu gehörten auch die Haubergsanteile, die die Eltern der<br />
beiden Brüder diesen zu gleichen Teilen hinterlassen hatten.<br />
Der Frühling kam, dem ein besonders harter Winter<br />
vorangegangen war, und in beiden Häusern herrschte<br />
Schmalhans Küchenmeister. Die beiden Brüder brachten<br />
ihre Werkzeuge, Äxte, Beile, Sägen, Knippen und Schälmesser,<br />
in Ordnung und begannen nach der erfolgten jährlichen<br />
Teilung des Haubergs, ihren Jahn zu bearbeiten.<br />
Sie machten alles gemeinsam, räumten das Unterholz,<br />
banden die Schanzen, schälten die Rinde von den Eichen,<br />
die dann später als Eichenlohe an die Gerberei verkauft<br />
wurde, und fällten schließlich die Bäume, die als Brennholz<br />
vorgesehen waren. Nach Abschluss der normalen Arbeiten<br />
wurde das Haubergskorn ausgesät, das später im Jahr<br />
geerntet, gedroschen und gemahlen werden musste. Alles<br />
wurde brüderlich geteilt.<br />
Die Haubergsarbeit verlief in bester Übereinstimmung<br />
und da auch das Wetter in dem Jahr mitspielte, war man<br />
Foto Ulli Weber<br />
nach drei Wochen so weit, dass das Holz<br />
und die Schanzen aus dem Wald nach Hause<br />
gefahren werden konnten. Alles wurde<br />
zunächst auf dem Hofe des Elternhauses<br />
abgeladen und dann begannen die beiden<br />
Brüder mit dem Zerkleinern des Holzes.<br />
Zunächst wurden die dünneren Stangen mit<br />
der Axt auf Ofenlänge geteilt, danach die<br />
dickeren Stämme gesägt und zerhackt. Alles<br />
Holz wurde zunächst auf einen großen<br />
Stapel aufgehäuft, von dem es dann in die<br />
unterschiedlichen Schuppen der Brüder zur<br />
Einlagerung verteilt wurde.<br />
Weil die beiden Höfe aneinander grenzten,<br />
konnte der Transport mit einer Schubkarre erfolgen.<br />
Die Karren wurden gleichmäßig beladen<br />
und gewissenhaft gezählt. Jeder sollte<br />
ja die gleiche Menge Holz erhalten.<br />
Des Abends, nach Beendigung der Arbeit,<br />
lag der jüngere Bruder mit seiner Frau im Bett. Er<br />
wälzte sich hin und her und konnte nicht einschlafen. Da<br />
fragte ihn seine Frau: „Warum schläfst Du nicht?“ Er sprach:<br />
„Ich denke an meinen Bruder. Wir haben das ganze Holz brüderlich<br />
geteilt, aber er ist ganz alleine und was wird, wenn er<br />
plötzlich erkrankt und er kann sich nicht mehr selbst helfen?“<br />
Die Frau liebte ihren Mann, verstand seine Gedanken und<br />
sprach zu ihm: „Dann tu doch, wonach dir ist.“<br />
Der Mann stand auf, kleidete sich an und brachte, ohne<br />
Lärm zu machen, im Schutz der Dunkelheit fünf Schubkarren<br />
Holz von seinem Vorrat in seines Bruders Schuppen.<br />
Danach legte er sich wieder in sein Bett, dankte seiner Frau<br />
für ihr Verständnis und schlief glücklich ein.<br />
Der ältere Bruder konnte auch nicht einschlafen und<br />
dachte für sich: Ich bin allein, aber mein Bruder hat eine<br />
Familie und deshalb steht ihm ein größerer Anteil des<br />
Holzes zu als mir. Ich will ihm diesen Anteil heimlich zukommen<br />
lassen. Und so stand auch er auf, kleidete sich<br />
wieder an und brachte still und heimlich, damit niemand<br />
etwas hören sollte, fünf Schubkarren Holz von seinem Vorrat<br />
in des jüngeren Bruders Schuppen. Danach legte er sich<br />
glücklich wieder in sein Bett und dankte Gott für den guten<br />
Gedanken.<br />
Am nächsten Morgen schaute jeder der Brüder noch einmal<br />
nach seinem Holz und da musste jeder zu seinem Erstaunen<br />
feststellen, dass sich an der Menge des Holzes gar<br />
nichts verändert hatte. Sie traten beide aus ihren Schuppen<br />
heraus und trafen sich auf dem Hof und als sie sich sahen,<br />
lachten sie und nahmen sich gegenseitig in die Arme.<br />
Die Frau des jüngeren Bruders kam dazu und sagte:<br />
„Geteilte Freude ist doppelte Freude.“ Otto Schneider<br />
34 durchblick 3/<strong>2015</strong>