2015-03
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Gesellschaft<br />
Fremde, die bleiben wollen<br />
Flüchtlingsbaracken vor 70 Jahren, die Setzer Halde<br />
Von Migration spricht man, wenn Personen oder<br />
Gruppen ihren Lebensmittelpunkt längerfristig<br />
oder dauerhaft räumlich verlegen. Geschieht dies<br />
über Staatsgrenzen hinweg, ist es internationale Migration<br />
1) . Schon in der Antike gab es großräumige und folgenschwere<br />
Wanderungsbewegungen in Europa. Damals<br />
hauptsächlich von Norden nach Süden.<br />
Die Gründe dafür waren (und sind) anhaltend verschlechterte<br />
Lebensbedingungen im Heimatland:<br />
► Klimatisch bedingt (Dürren, Überschwemmungen<br />
und die Folgen),<br />
► Politisch bedingt (Kriege, Einfall anderer<br />
Volksgruppen, Verfolgung von Minderheiten),<br />
► Krankheiten/Seuchen, Überbevölkerung.<br />
Oft war es gezielte Bevölkerungspolitik, die in früheren<br />
Jahrhunderten zur Migration einer Bevölkerungsgruppe führte:<br />
Wolgadeutsche und Donauschwaben verließen Deutschland,<br />
andere, z. B. Hugenotten und sogenannte „Gastarbeiter“ (im<br />
18. bzw. 20. Jahrhundert) kamen hinein. Im 19. Jahrhundert<br />
wanderten zahlreiche Europäer nach Amerika aus. Beispielhaft<br />
ist auch der „Exodus“ von Juden in den Staat Israel, die<br />
gleichzeitige Verdrängung anderer Bevölkerungsgruppen und<br />
ihre Wechselwirkungen auf Nachbarstaaten.<br />
Zwangsmigration wurde zu einem der prägenden Kennzeichen<br />
des 20. Jahrhunderts – einerseits in Form der Verschleppung,<br />
andererseits in Form der Vertreibung ethnischer<br />
Minderheiten mit dem Ziel, ethnisch homogene Nationalstaaten<br />
zu etablieren. Das war im östlichen Europa – dem<br />
breiten Streifen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer -<br />
besonders problematisch, denn hier leben (oder lebten) von<br />
alters her Völkerschaften und Religionsgemeinschaften in<br />
buntem Miteinander. Die derzeit genannten<br />
Fluchtgründe zahlreicher<br />
Menschen aus den Balkanstaaten belegen,<br />
dass dieses „Miteinander“ oft<br />
unheilbar gestört ist. Nachteilig für<br />
Migranten vom Balkan ist eine verbreitete<br />
Werteskala, der zufolge sich<br />
die Akzeptanz einer Personengruppe<br />
aus ihrer territorialen Herkunft ableitet.<br />
Zudem treffen Vorurteile und<br />
Ablehnung besonders Menschen, die<br />
schon in ihren Heimatländern benachteiligt<br />
werden.<br />
In Europa wurden im vergangenen<br />
Jahr 270.000 Asylanträge gestellt.<br />
Zusätzlich zu den anerkannten/registrierten<br />
Migranten leben in mehreren<br />
europäischen Staaten große Gruppen<br />
als „Illegale“ in einem Schattendasein. Italien und Griechenland<br />
reichen diese Menschen nach Möglichkeit weiter,<br />
lassen sie durchziehen, vor allem nach Deutschland. Auf<br />
dem Weg dorthin stranden viele in Österreich. Tausende<br />
Migranten lagern in Nordfrankreich auf freiem Feld, um<br />
durch den Kanaltunnel nach England zu gelangen. Die Engländer<br />
haben dichtgemacht, Ungarn zieht Zäune hoch, die<br />
baltischen Staaten und Polen winken ab. Weltweit sind laut<br />
UNHCR 2) allein im letzten Jahr 13,9 Millionen Menschen<br />
durch Konflikte oder Verfolgung zu Flüchtlingen geworden.<br />
Ihre Gesamtzahl liegt gegenwärtig bei 59,5 Millionen.<br />
Mit steigender Tendenz.<br />
Es gibt gewiss zahlreiche Gründe, aus Syrien, aus Libyen,<br />
aus dem Irak, aus Afghanistan oder Eritrea zu fliehen. Und<br />
oft sind es unbegleitete Flüchtlinge unter 18 Jahren, die Asyl<br />
beantragen. Tausende und Abertausende reißt es mit. Warum<br />
gerade jetzt dieser explosionsartige Aufbruch, der die Züge<br />
einer menschlichen Katastrophe anzunehmen scheint?<br />
Für mehr als 60 % der Deutschen steht das Thema Flüchtlinge<br />
und Asyl obenan auf der Interessenskala. 3) Zu Recht,<br />
denn „Die Lage spitzt sich zu: In diesem Jahr werden für<br />
Kommunen und Bundesländer mehr als 5 Milliarden Euro<br />
fällig.“ Diese Meldung (FAZ, 27. Juli <strong>2015</strong>) wird belegt<br />
mit amtlichen Zahlen, denen zufolge die Zahl der Asylbewerber<br />
in Deutschland innerhalb weniger Jahre von 28.000<br />
Anträgen (2008) auf 202.800 (2014) und voraussichtlich<br />
450.000 (<strong>2015</strong>) steigt. Damit verdoppelt sich innerhalb<br />
weniger Monate die Zahl derer, die bei uns Frieden und<br />
Zukunftschancen suchen. Darauf war niemand vorbereitet.<br />
Die kommunalen Verwaltungen, die für die Unterbringung<br />
zu sorgen haben, sind häufig überfordert, Bürgermeister ringen<br />
die Hände, die Bevölkerung schwankt zwischen Hilfsbereitschaft<br />
und fremdenfeindlicher Aggression. Glückli-<br />
54 durchblick 3/<strong>2015</strong><br />
Alle Fotos Archiv Brigitte Lanko