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14 BERLIN BERLINER KURIER, Sonnabend, 27.Oktober 2018 *<br />
Nicole (29):<br />
Ein Hilferuf<br />
von der Straße<br />
Sie ist seit elf Jahren obdachlos und würde sogar in eine Garage ziehen<br />
Von<br />
CHRISTIAN GEHRKE<br />
Berlin – Ihre alkoholkranke<br />
Mutter schlägt sie grün und<br />
blau, ihr Vater stirbt an<br />
Krebs. Nicole Ewert (heute<br />
29) landet erst im Kinderheim,<br />
danach auf der Straße.<br />
Ihr Leben klingt wie ein Alptraum,<br />
doch sie hat nie aufgehört<br />
zu träumen. Sie<br />
möchte mit ihrem Freund<br />
Benjamin selbstständig leben,<br />
eine Wohnung haben,<br />
sagt: „Wir nehmen auch eine<br />
Garage.“<br />
Sie weiß, wie es ist, in drei<br />
Schlafsäcken zu schlafen –bei<br />
eisigen Temperaturen im Winter.<br />
Sie kennt die Angst vor<br />
dem Erfrieren. Oder das Gefühl,<br />
wenn man nach dem Aufwachen<br />
seine Beine nicht<br />
mehr spürt. Denn Nicole<br />
Ewert (29) ist obdachlos.<br />
Das erste Mal übernachtet<br />
die gebürtige <strong>Berliner</strong>in auf<br />
der Straße, als sie 14 Jahre alt<br />
ist. „Ich habe die Erzieher im<br />
Heim nicht mehr ausgehalten<br />
und bin weg“, sagt sie. Sie lebt<br />
auf dem Alex, am Hackeschen<br />
Markt, in Parks und unter der<br />
Brücke.<br />
Zweimal kommt sie ins Betreute<br />
Wohnen. Doch dort<br />
fühlt sie sich nicht wohl, reißt<br />
immer wieder aus.<br />
Der Alkohol wird schnell ihr<br />
ständiger Begleiter, die Drogen<br />
auch. Seit elf Jahren mittlerweile<br />
hat sie durchgängig kein<br />
Dach über dem Kopf.<br />
Doch damit soll jetzt endlich<br />
Schluss sein. Seit vier Monaten<br />
ist sie weg vom Alkohol und<br />
den Drogen –dank einer Kur.<br />
Mithilfe des KURIER will sie<br />
neu anfangen: „Auch wenn ich<br />
oft verzweifelt bin, die Hoffnung<br />
auf eine eigene Bleibe gebe<br />
ich nicht auf, auch wegen<br />
Benjamin“, sagt sie. Benjamin<br />
(28) kennt sie noch aus dem<br />
Kinderheim, auch er lebt auf<br />
der Straße. Er ist ihre große<br />
Liebe. Seit 18 Jahren sind die<br />
beiden ein Paar. „Er ist psychisch<br />
labil und hat mehrfach<br />
versucht, sich umzubringen.<br />
Er braucht mich und eine<br />
Wohnung“, sorgt sich Nicole<br />
Ewert. Sie liest viel und<br />
braucht deswegen Platz für ihre<br />
Bücher. Die Notunterkünfte<br />
in Berlin seien aus ihrer Sicht<br />
schlechter als die Straße selbst:<br />
„Das wird geklaut, da ist Ungeziefer,<br />
null Privatsphäre.“<br />
Und die Straße sei eben sehr<br />
gefährlich, sagt Nicole. Im Juli<br />
wurden am S-Bahnhof Schöneweide<br />
zwei Männer angezündet.<br />
Es war nicht der erste<br />
Mordversuch an Obdachlosen<br />
in Berlin. „ Benjamin wurde<br />
vor über einem Jahr am S-<br />
Bahnhof Jannowitzbrücke<br />
verprügelt“, so die 29-Jährige.<br />
Die Zahl der Obdachlosen<br />
stiegt in der Stadt stetig an. Inzwischen<br />
geht man davon aus,<br />
dass 6000 bis 8000 Menschen<br />
in der Stadt auf der Straße<br />
übernachten. Etwa<br />
50 000 haben<br />
keinen festen<br />
Wohnsitz.<br />
Nach über einem<br />
Jahrzehnt<br />
ohne feste Bleibe<br />
hat sich der Gesundheitszustand<br />
von Nicole<br />
Ewert<br />
zudem verschlechtert.<br />
Sie hat Leberzirrhose,<br />
Bronchitis,<br />
Asthma,<br />
Rheuma.<br />
Die<br />
Nerven<br />
sind kaputt.<br />
Sie<br />
kann<br />
nur<br />
zwei<br />
Stützen<br />
laufen.<br />
mit<br />
Im<br />
Moment hat<br />
sie eine Chance,<br />
im betreuten Wohnen<br />
zu leben. „Ich will aber<br />
mit Benjamin wohnen. Allein<br />
und selbstständig“, erklärt<br />
sie .<br />
Am 6. November wird Nicole<br />
Ewert 30 Jahre alt. Vielleicht<br />
wird bis dahin ja ihr<br />
größter Wunsch erfüllt.<br />
DasLeben auf den<br />
Straßen hat die gebürtige<br />
Neuköllnerin<br />
geprägt.Sie will jetzt<br />
neu anfangen.<br />
Foto: Gerd Engelsmann