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ELMA_Magazin_JuniJuli_2021

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62 GESUNDHEIT & FITNESS<br />

„MEINE INNERE STIMME<br />

SAGT, ICH BIN ZU DICK“<br />

Drei Tage hat sich Kyra S. Zeit genommen, um die<br />

wohl schwierigste Entscheidung ihres Lebens zu<br />

treffen. Drei Tage, die ihr aufgrund des körperlichen<br />

Zustands das Leben hätten kosten können.<br />

Ihre Eltern hatten die 14-Jährige vor die Wahl gestellt:<br />

„Entweder du gehst ins Klinikum Nürnberg<br />

und lässt deine Essstörung behandeln. Oder du<br />

wirst sterben.“<br />

Text Jasmin Pauler (Klinikum Nürnberg)<br />

39,6 Kilogramm bei einer Größe von 1,70 Meter. So viel, oder<br />

besser gesagt so wenig, wog Kyra an dem Tag, als sie sich<br />

dafür entschied, weiterleben zu wollen. Die Gedanken der<br />

14-Jährigen hatten sich monatelang nur um eines gedreht:<br />

abnehmen. Statt Freunde zu treffen, nutzte die Schülerin<br />

während des Lockdowns 2020 jede Gelegenheit, um Kalorien<br />

zu verbrennen. Zur Verwunderung ihrer Eltern ging<br />

sie stundenlang spazieren, war ständig in Bewegung. „Ich<br />

habe mich viel mit meinen Freundinnen verglichen, die<br />

waren in meinen Augen dünn. Dass ich deutlich größer<br />

bin, habe ich nie bedacht.“ Müdigkeit und die fehlende<br />

Energie ignorierte sie. „Die Krankheit hat mich vollständig<br />

eingenommen“, weiß das Mädchen heute. Als sich die<br />

Lage zuspitzte, holten sich die Eltern Rat beim Kinderarzt.<br />

Der schlägt nach der Untersuchung Alarm. Denn<br />

der Verdacht hat sich bestätigt: Kyra leidet nicht nur an<br />

einer Essstörung. Ihr körperlicher Zustand ist bereits lebensbedrohlich.<br />

Die erste Woche nach der Entscheidung, sich behandeln<br />

zu lassen, verbringt sie in der Kinderklinik des Klinikums<br />

Nürnberg. Sie hat strenge Bettruhe, selbst beim<br />

Duschen verliert sie zu viele Kalorien. Nach einigen<br />

Untersuchungen wird der Jugendlichen klar, in welchem<br />

Zustand sie sich befindet, denn um ihr Herz hat<br />

sich Wasser angesammelt. Die nächsten sieben Wochen<br />

verbringt Kyra in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik<br />

und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter.<br />

Sie ist ununterbrochen müde, friert und hat die<br />

Hälfte ihrer Haare verloren. Ihr Körper hat die Pubertät<br />

und damit auch die Regelblutung eingestellt.<br />

„Ich weiß nicht, ob ich noch Kinder kriegen kann“,<br />

ist sich die junge Frau heute der Situation bewusst.<br />

Dank Stufenplan nimmt Kyra langsam zu und erzielt<br />

Erfolge. Kurz vor Weihnachten wird sie entlassen. Zu<br />

Hause fällt sie jedoch in alte Muster, innerhalb einer<br />

Woche verliert sie wieder fünf Kilo.<br />

Die Tagesklinik des Klinikums nimmt<br />

sie auf. Seit Januar dieses Jahres<br />

kämpft sie dort täglich gegen sich<br />

selbst. „Ich habe teilweise immer<br />

noch Angst vor dem Essen“, erklärt<br />

sie. Die 14-Jährige macht jedoch<br />

Fortschritte. Mittlerweile wiegt sie 46 Kilogramm<br />

und stärkt dank Therapien ihre Körperwahrnehmung.<br />

„Mein Essensplan ist voll, ich habe jedoch einen sehr<br />

guten Stoffwechsel und nehme schwer zu“, weiß Kyra.<br />

Trotz ihrer zierlichen Erscheinung wirkt die Patientin<br />

außergewöhnlich reif. „Ich habe schon einige Entscheidungen<br />

getroffen und eine lange Geschichte zu<br />

erzählen“, sagt sie. Warum sie überhaupt von sich<br />

erzählt? „Die Menschen sollen verstehen, was die<br />

Krankheit mit einem macht.“ Kyra möchte anderen<br />

Jugendlichen Mut machen, an sich selbst zu glauben.<br />

Denn die Essstörung war ein schleichender Prozess.<br />

„Als ich noch in der Schule war, habe ich mein Essen<br />

verschenkt“, erinnert sich die Jugendliche. Selbst<br />

wenn sie Wasser getrunken hatte, sagte die Stimme<br />

im Kopf „du bist zu dick“. Dass daran etwas falsch war,<br />

habe sie lange nicht begriffen.<br />

Nach der Entlassung aus der Therapie hat sie sich viel<br />

vorgenommen. Sie will unbedingt Koreanisch lernen,<br />

Architektur studieren und die Welt entdecken. Auch<br />

über eine Wohngruppe hat sie sich schon Gedanken<br />

gemacht. Doch vor ihr liegt noch ein langer Weg, denn<br />

Kyra hat ein Ziel: „Ich möchte wieder gesund werden<br />

und nicht 24/7 dran denken, was ich esse.“<br />

Die 14-jährige Kyra S. leidet<br />

an einer Essstörung.

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