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62 GESUNDHEIT & FITNESS<br />
„MEINE INNERE STIMME<br />
SAGT, ICH BIN ZU DICK“<br />
Drei Tage hat sich Kyra S. Zeit genommen, um die<br />
wohl schwierigste Entscheidung ihres Lebens zu<br />
treffen. Drei Tage, die ihr aufgrund des körperlichen<br />
Zustands das Leben hätten kosten können.<br />
Ihre Eltern hatten die 14-Jährige vor die Wahl gestellt:<br />
„Entweder du gehst ins Klinikum Nürnberg<br />
und lässt deine Essstörung behandeln. Oder du<br />
wirst sterben.“<br />
Text Jasmin Pauler (Klinikum Nürnberg)<br />
39,6 Kilogramm bei einer Größe von 1,70 Meter. So viel, oder<br />
besser gesagt so wenig, wog Kyra an dem Tag, als sie sich<br />
dafür entschied, weiterleben zu wollen. Die Gedanken der<br />
14-Jährigen hatten sich monatelang nur um eines gedreht:<br />
abnehmen. Statt Freunde zu treffen, nutzte die Schülerin<br />
während des Lockdowns 2020 jede Gelegenheit, um Kalorien<br />
zu verbrennen. Zur Verwunderung ihrer Eltern ging<br />
sie stundenlang spazieren, war ständig in Bewegung. „Ich<br />
habe mich viel mit meinen Freundinnen verglichen, die<br />
waren in meinen Augen dünn. Dass ich deutlich größer<br />
bin, habe ich nie bedacht.“ Müdigkeit und die fehlende<br />
Energie ignorierte sie. „Die Krankheit hat mich vollständig<br />
eingenommen“, weiß das Mädchen heute. Als sich die<br />
Lage zuspitzte, holten sich die Eltern Rat beim Kinderarzt.<br />
Der schlägt nach der Untersuchung Alarm. Denn<br />
der Verdacht hat sich bestätigt: Kyra leidet nicht nur an<br />
einer Essstörung. Ihr körperlicher Zustand ist bereits lebensbedrohlich.<br />
Die erste Woche nach der Entscheidung, sich behandeln<br />
zu lassen, verbringt sie in der Kinderklinik des Klinikums<br />
Nürnberg. Sie hat strenge Bettruhe, selbst beim<br />
Duschen verliert sie zu viele Kalorien. Nach einigen<br />
Untersuchungen wird der Jugendlichen klar, in welchem<br />
Zustand sie sich befindet, denn um ihr Herz hat<br />
sich Wasser angesammelt. Die nächsten sieben Wochen<br />
verbringt Kyra in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik<br />
und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter.<br />
Sie ist ununterbrochen müde, friert und hat die<br />
Hälfte ihrer Haare verloren. Ihr Körper hat die Pubertät<br />
und damit auch die Regelblutung eingestellt.<br />
„Ich weiß nicht, ob ich noch Kinder kriegen kann“,<br />
ist sich die junge Frau heute der Situation bewusst.<br />
Dank Stufenplan nimmt Kyra langsam zu und erzielt<br />
Erfolge. Kurz vor Weihnachten wird sie entlassen. Zu<br />
Hause fällt sie jedoch in alte Muster, innerhalb einer<br />
Woche verliert sie wieder fünf Kilo.<br />
Die Tagesklinik des Klinikums nimmt<br />
sie auf. Seit Januar dieses Jahres<br />
kämpft sie dort täglich gegen sich<br />
selbst. „Ich habe teilweise immer<br />
noch Angst vor dem Essen“, erklärt<br />
sie. Die 14-Jährige macht jedoch<br />
Fortschritte. Mittlerweile wiegt sie 46 Kilogramm<br />
und stärkt dank Therapien ihre Körperwahrnehmung.<br />
„Mein Essensplan ist voll, ich habe jedoch einen sehr<br />
guten Stoffwechsel und nehme schwer zu“, weiß Kyra.<br />
Trotz ihrer zierlichen Erscheinung wirkt die Patientin<br />
außergewöhnlich reif. „Ich habe schon einige Entscheidungen<br />
getroffen und eine lange Geschichte zu<br />
erzählen“, sagt sie. Warum sie überhaupt von sich<br />
erzählt? „Die Menschen sollen verstehen, was die<br />
Krankheit mit einem macht.“ Kyra möchte anderen<br />
Jugendlichen Mut machen, an sich selbst zu glauben.<br />
Denn die Essstörung war ein schleichender Prozess.<br />
„Als ich noch in der Schule war, habe ich mein Essen<br />
verschenkt“, erinnert sich die Jugendliche. Selbst<br />
wenn sie Wasser getrunken hatte, sagte die Stimme<br />
im Kopf „du bist zu dick“. Dass daran etwas falsch war,<br />
habe sie lange nicht begriffen.<br />
Nach der Entlassung aus der Therapie hat sie sich viel<br />
vorgenommen. Sie will unbedingt Koreanisch lernen,<br />
Architektur studieren und die Welt entdecken. Auch<br />
über eine Wohngruppe hat sie sich schon Gedanken<br />
gemacht. Doch vor ihr liegt noch ein langer Weg, denn<br />
Kyra hat ein Ziel: „Ich möchte wieder gesund werden<br />
und nicht 24/7 dran denken, was ich esse.“<br />
Die 14-jährige Kyra S. leidet<br />
an einer Essstörung.