De_Bug (Germany) 055 2002-01
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bilder
text: stefan heidenreich
Politik & Internet
Der Netizen 2002
Baudrillard wieder ausgraben
Zum Jahreswechsel spricht alles dafür, Baudrillard wieder auszugraben und angesichts der Reaktionen
auf den 1(1). 09. anzuerkennen, dass der Krieg auf das Netz ausgeweitet worden ist.
Doch gerade weil der Netizen 2002 im Netz zwar registriert ist, aber anonym bleibt, bleibt das
Netz intellektuelles Luxusgut.
text: nico haupt | nicohaupt@yahoo.com | foto: merve Verlag
Verbrechen der Wehrmacht.
Ein Mann durchsucht in Tarnopol unter
Zwang Leichen. Foto: AP
Ein junger Mann durchwühlt die Kleidung der Ermordeten.
Vor ihm steht ein Deutscher mit einem Prügel in
der Hand. Die Toten sind mit großer Sicherheit Opfer
des russischen Geheimdienstes NKWD. Verwechslungen,
Fehldeutungen, falsche Zuschreibungen oder fehlerhafte
Identifizierung von Tätern oder Opfern in einzelnen
Bildern, das war die Kritik an der Ausstellung zu
dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht, wie sie bis 1999
durch Deutschland tourte. Nun wurde die Ausstellung
komplett überarbeitet. Es gibt kaum mehr große Fotos,
schon gar nicht von Gräueltaten. Galgen und Leichen,
Erschießungen und Verhungernde sind nur noch im
Postkartenformat zu besichtigen. Man sieht die Bilder
der Kriegsverbrechen entrückt wie durch ein Fernglas.
Große Bilder sind von nun an den Großbild-Leinwänden
vorbehalten, auf denen sich wohl bald in "Stalingrad,
Teil 5" wieder heldenhafte deutsche Landser mit
russischen Flintenweibern Duelle liefern dürfen. Die
Wahrheiten des Kriegs gibt es dagegen en miniature.
Mit derselben Rationalität, mit der man den Einsatz
militärischer Gewalt gutheißt, will man die Verbrechen
des letzten Krieges nur noch wissen und nicht mehr sehen.
Es stimmt schon: nur weil ein Foto groß aufgezogen
wird, wird sein Quellenwert nicht eindeutiger.
Worin liegt dann der Unterschied, ob man eine Erschießung
lebensgroß vor sich sieht oder nur in Postkartengröße?
Vielleicht in der Kraft der Vergegenwärtigung.
Vom vorliegenden Bild gibt es eine spätere Aufnahme.
Auf ihnen liegt der junge Mann, der hier noch
die Taschen eines Toten durchwühlt, selbst tot über den
Leichen.
SH•••••
Spiegel-Montage zur Endphase
des Afghanistankriegs
Was mit dem Training am Flugsimulator begann, endet
ganz folgerichtig im Kerker. Der jüngste Krieg kann der
Logik der Unterhaltungsindustrie nicht ausweichen.
Der Showdown findet dort statt, wo ihn sich die Freunde
von Ballerspielen nur wünschen können. Der Dungeon
ruft, der Ort der Monster und Fallen. Trainingssoftware
gibt es in rauhen Mengen. Die Angreifer können
auf reichhaltige Erfahrung diverser Ego-Shooter
zurückblicken. Aber was tun die Bösen? Auch für sie hat
die Spieleindustrie längst vorgesorgt. In dem Game
"Dungeon Keeper" sind die Seiten verkehrt. Man spielt
Herr über seinen Kerker und muss seine Monster gut
aufstellen, damit sie die Guten aufhalten, die von allen
Seiten immer wieder einzudringen versuchen. Der
Spiegel hat sich in diesem Bild für die Perspektive von
"Dungeon Keeper" entschieden. Die Höhle ist in isometrischer
Draufsicht nach oben geöffnet. Der gläserne
Fels gibt das Netz von Gängen, Treppen und Sälen frei,
wie es jedem Spieler vertraut sein dürfte. Die Einrichtung
ist mit Gebrauchsanleitung eingezeichnet (Dieselgeneratoren
.. Wärmeabstrahlung .. aufspüren). Abweichend
von der Genfer Konvention gelten die Gesetze
von Dungeons & Dragons in der revidierten 3. Fassung,
dem einzig wahren Regelwerk für den Höhlenkampf,
ergänzt durch die bekannten Richtlinien des Monster's
Manual. Es wird nicht lange dauern, bis der Dungeonmaster
Bin Laden eine populäre Spielfigur wird.
SH••••
Immer wieder haben sich in den letzten
Jahren Sozial- und Computerwissenschaftler
mit Elias Canettis These beschäftigt,
dass ab einem bestimmten
Zeitpunkt die Geschichte nicht mehr
wirklich ist. "Ohne es zu merken, hätte die
Menschheit insgesamt die Wirklichkeit plötzlich
verlassen; alles, was seitdem geschehen sei, wäre
gar nicht wahr; wir könnten es aber nicht merken."
Jean Baudrillard sprach schon in den
80ern von einer Befreiungsgeschwindigkeit,
die man erreichen müsse, um
diesen Punkt zu finden. Nach Baudrillard
besäßen politische und soziale Ereignisse
von sich aus keine Kraft mehr,
um uns noch zu erschüttern, sondern
spulten sich wie ein Stummfilm ab, für
den wir weder individuell noch kollektiv
verantwortlich sind. Einzig allein
der Terrorismus vermag diese so genannte
Hyperrealität nicht stumm,
sondern gewaltsam auszulösen. Es
scheint, als wenn mit Eintritt des digitalen
Zeitalters (in dem es kein Negativ
wie noch beim Foto mehr gibt) eine
weitere Gleichschaltung mit diesem toten
Punkt am 1(1).9.2001 erfolgt ist.
Dies war der Tag, als vier Flugzeuge,
von wem auch immer gesteuert und
verantwortet, die Geschichte gewaltsam
in eine weitere Ebene gestoßen hatten,
um das Verschwinden der Geschichte
weiter zu beschleunigen.
Präsenz statt Individualität
Während wir in den 90er Jahren noch
versucht haben, statt Ruhm nur noch
Individualität zu erreichen, scheint es
mit dem Eintritt des neuen Jahrhunderts
nicht einmal mehr um unsere Beweisbarkeit
zu gehen. Von nun an zählt
nur noch einzig und allein unsere Anwesenheit,
deren Registrierung, Kontrolle
und Konfiguration. Wir haben
uns alle für diese digitale Wahrheit entschieden,
es gibt kein Zurück mehr.
Rodney Brooks erwartet den Robomensch,
Steve Mann den Bionikmensch
und alle anderen blicken auf
die künstliche Intelligenz. Wir lernen
zur Zeit, das Ende des Privatlebens zu
lieben, ohne zu fragen warum.
Baudrillard beobachtet weiter, dass im
letzten Jahrzehnt ein Beschleunigungsphänomen
eingesetzt hat. Statt der totalitären
Umschreibung der Geschichte
drohte die umgekehrte Umschreibung,
die Tilgung von Sozialismus und Diktaturen,
eine Liquidierung aller Menschenrecht-feindlichen
Regimes. Dieser
so genannten "demokratischen Rallye"
sei jedoch keineswegs zu trauen. Es
sei keine historische Evolution, sondern
eine Konsens-Epidemie, ein virusbedingter
Effekt. Dass sich die demokratischen
Werte so gut ausbreiten,
liegt daran, dass sie liquide geworden
und nichts mehr wert sind. Durch diesen
"Verramschungseffekt" sei daher
die Wahrscheinlichkeit groß, dass es,
"wie bei einer Börsenspekulation zu einem Einbruch
dieser Werte kommt".
Offenbar hat auch der Islam ein Beschleunigungsprinzip
inne, das selbst
mit Einwänden von Verschwörungstheoretikern
aufgegangen ist. Die westlichen
und fernöstlichen Werte haben
sich Hand in Hand voneinander ausgeschlossen
oder verbündet, wie man es
nimmt. An ihre Stelle ist, kurioser
Weise unter dem Deckmantel von Patriotismus
und dem "Wohl der Kommune"
(Bush/Master Card usw.) ein
Kontrollapparat getreten, der sich nun
auch anschickt, nicht nur unsere Verhaltensweisen,
sondern auch die Wahrheit
zu kontrollieren. Seit der Attacke
auf die Demokratie zählt daher nur die
Durchführung und dessen Rechtfertigung
eines Überwachungskatalogs, um
den Menschen in ein austauschbares
Objekt zu verwandeln. Hier und drüben
reichen US-Präsident Bush je
5000 Tote und Anthrax-Attacken für
die Einführung eines Anti-Terrorist-
Pakts mit Militär-Tribunal. In
Deutschland genügt ein verletzter Stolz
bei Otto Schily und Milzbrandhoaxe
für weitere Überwachungsnormen und
Schröder bekommt die deutschen Soldaten
in den Krieg. Die NATO gibt
weiter den Ton an.
Krieg im Netz
Ein Harris Poll vom November 2001,
eines der omnipräsentesten Online-
Meinungsinstitute, fand heraus, dass
63% aller Amerikaner der Überwachung
in Chaträumen und Discussion
Boards zustimmen würden, wenn dies
der inneren Sicherheit diene. 54% favorisierten
zudem ähnliche Maßnahmen
für Email und Cell Phone. Die
allgemeine Kriegseuphorie geht jedoch
stark zurück. Ironischer Weise werden
diese Aktionen einzig und allein nur
durch ein Attribut begründet, von dem
Von nun an zählt nur noch
einzig und allein unsere
Anwesenheit, deren Registrierung,
Kontrolle und
Konfiguration.
wir ebenfalls lange nicht mehr gesprochen
hatten: Nationale Sicherheit.
Verfassungsfreiheiten werden dazu ausgehöhlt
und die eigenen Gegner gleich
Freunde von Bin Laden genannt. Die
Printausgabe von "Yahoo" titelte ihre
Dezember Ausgabe: "Schränkt zuviel
Paranoia die Privatsphäre im Internet
ein?"
Das Internet, das seit dem Dotcomcrash
wieder zum intellektuellen
Luxusgut mutiert, ist vermutlich der
letzte Hort der Wahrheit geworden.
Wer nicht rechtzeitig gelernt hat, wie
man dort navigiert und seinen vertrauten
digitalen Freundeskreis findet, um
sich auszutauschen, der wird es bald
schwer haben.
Im Netz setzte seit Ende September
2001 ein neuer Kontroll- und Zensurschub
ein. Webseiten verschwanden
über Nacht, Kryptographieprogramme
wurden gejagt.
Vielleicht ist am Ende selbst im [noch
sicheren?] Internet der Preis groß.
Man wird gejagt und bleibt doch ein
Anonymus, allenfalls eine Ansammlung
von bekannten Nicknames. Wie
sagte Ray Leotta so schön in "Good Fellas"
(Scorcese): "Du bist ein Nobody,
ein Shmoog" (Mischung aus Smock
und Moog). Da hatte der ehemalige
Mafioso dann in einem Reihenhaus leben
müssen. Heute ist das digitale Reihenhaus
ebenfalls nicht mehr fern und
Kriminalität eh relativ geworden. Wer
weiß schon, wie sich gesteigerte Realität
anfühlt, wenn man die alten Werte
nicht mehr kennt?