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De_Bug (Germany) 055 2002-01

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buch

Neue Bücher

Derrida als Buch

Nicht nur wegen des Adorno-Preises

hat Derrida derzeit Hochkonjunktur.

Pünktlich zum diskursiven Höhenflug

hat Suhrkamp die lesenswerte Einführung

in das Derrida'sche Denken

von Geoffrey Bennington wieder aufgelegt,

die gleichzeitig eine Biographieannäherung

ist und noch einen

kommentierenden literarischen Text

von Derrida vorweisen kann. Für alle

Anfänger, Privatleben-Naseweise und

ansonsten neugierig Gebliebenen.

[Mercedes Bunz]

Jacques Derrida. Ein Porträt von Geoffrey

Bennington und Jacques Derrida. Frankfurt am

Main, Suhrkamp stw, EUR 14

Pflichtlektüre

für Parlamentarier

Derrida hielt 1996 die beiden Seminare,

die hier als "Von der Gastfreundschaft"

(De L'Hospitalité) im Passagen

Verlag mit einem schönen langen

Nachwort namens "Einladung" von

Anne Dufourmontelle erscheinen.

Es groovt sich über eine Textanalyse

von Stellen Platons (Sophistes) und

Sophokles (Ödipus) ein und landet

(für Leser von "La Carte Postale"

nicht…) ganz unerwartet bei einer

etwas anderen Kritik der Überwachung

von Telekommunikation, in

Sätzen wie diesem: "Doch die gegenwärtige

Technikentwicklung strukturiert den Raum

in der Weise neu, dass gerade das, was einen

kontrollierten und genau umschriebenen Raum

des Eigentums konstituiert, diesen für Eindringlinge

öffnet. Auch das ist nichts völlig

Neues: Um den Raum eines bewohnbaren

Hauses und eines Zuhauses zu schaffen,

braucht es auch eine Öffnung, eine Tür und

Fenster, man muss dem Fremden einen Durchgang

anbieten". Woraus er, nicht unlustig

und nicht nur die Gastfreundschaft

untrennbar mit der Möglichkeit

des Gesetzes überhaupt verbindet,

sondern vor allem ((aber)) Asylrecht

und digitale Freiheit als untrennbar

zusammengehörig kurzschließt

und als nahezu kantische Pflicht

Europas zum ewigen Frieden bezeichnet.

Eine Pflichtlektüre also für

jeden Parlamentarier und Innenminister

- insbesondere auch, wenn’s

weil’s mit der etwas dunkel formulierten

Forderung endet, alle

Bemühungen für Afghanistan an der

Verbesserung der Situation der Frauen

zu messen. Gebt euch einen Ruck,

das Buch passt auch definitiv mit seinem

blassgrauen Schutzumschlag

perfekt zwischen Anzug und graues

Haar. [Sascha Kösch]

Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft,

Wien, Passagen Verlag 2001, EUR 20,04

Derrida

und die Universität

Dass Derridas Glaubensbekenntnis

zur Universität nicht nur weit in die

Zwischenräume einer Konstellation

aus Professur, Professionalität, Arbeit,

seinem gespenstischen Marxismus

und damit seiner ungebrochenen

Begeisterung für Austins Unterscheidung

zwischen performativen

und konstativen Akten, die für ihn das

Ereignis der Humanwissenschaften

des 20ten Jahrhunderts darstellen,

einsickern würde, war klar. Dass daraus

eine dislozierte Universität werden

würde, nicht unbedingt. "Die unbedingte

Universität" widmet sich vor allem

der Universität als dem Ort der

Möglichkeit der Frage. Dass man sich

mit Derrida auf einmal wohl fühlen

kann in dieser genau bestimmten

Unbestimmbarkeit, der mehr als realen

Virtualität - ob man Student ist

oder auch nicht Student - vor allem

aber bedingungslos Theorie betreibt,

in ständiger Offensive gegenüber der

Souveränität auch des Wissens, das

nimmt man für einen Preis unter

dem einer handelsüblichen 12"

(14,90 DM) irgendwie gerne mit.

[Sascha Kösch]

Jacques Derrida, Die unbedingte Universität,

Edition Suhrkamp, EUR 7,62

Die Ökonomie

der New Economy

"Es ist einfach nicht mehr cool, etwas herzustellen."

schrieb 1999 der Management-Berater

Ron Nicols. Dass irgendwann

in den 90er Jahren die

Wirtschaft sensibel, jugendlich,

soulful wurde, tanzen lernte, war

auch De:Bug zu entnehmen. Mit

dem neoliberalen Diskurskolonialismus

gegenüber Kultur und auch Politik

befasst sich Thomas Franks neues

Buch mit dem blöd klingenden

deutschen Untertitel "Wider die neoliberale

Schönfärberei". Frank ist kein

Unbekannter: als Herausgeber des

Kulturmagazins "The Baffler" formulierte

er Mitte der 90er Jahre die

Kritik, dass jeder vermeintlich dissidenten

Kultur im Differenzkapitalismus

ihr vermarkteter Platz eingeräumt

wird. Das neue Buch mit dem

Originaltitel "One Market Under God"

rekonstruiert sehr materialreich, wie

der Markt als letzte Verwirklichung

der demokratischen Gesellschaft erfunden

wurde, wie die CEOs großer

Firmen lernten von Revolution zu

sprechen und wie arm sein zur

Schuld wurde. [Alexis Waltz]

Thomas Frank, Das falsche Versprechen der

New Economy. Campus Verlag (Berlin, New

York) 25,46 EURO

Die Guten und Bösen im Netz

Das von Armin Medosch von Telepolis

und Janko Röttgers – u.v.a.

Autor bei uns hier – herausgegebene

Buch "Netzpiraten" will die Subkulturen

des elektronischen Verbrechens

durchforsten und zeigen, dass die

digitalen Grenzen zwischen Innovationen

in digitaler Kultur und Illegalität

vielleicht auch aufgrund oft

nicht geklärter Rechtslagen und

noch viel weniger geklärtem Rechtsund

Besitz-Bewusstseins im Netz

schmaler sind, als einen die Initiativen

der alt bekannten RIAA, MPAA,

der Webbeauftragten und Innenministerien

diverser Staaten, aber vor

allem auch des medial verbreiteten

Bildes von Hackern und anderen

Bösewichten im Netz glauben machen

wollen. In einer Artikelsammlung

von Boris Gröndahl, Christiane

Schulzki-Haddouti, Bernhard

Günther, Florian Schneider, Florian

Rötzer, Peter Mühlbauer, Ralf

Benrath, David McCandless und den

Herausgebern bildet sich so ein

breitgefächerter Kampf um Style,

Überlebensstrategien, Langeweile,

Sicherheitslücken, das Recht auf Informationsfreiheit

und andere Basistendenzen

der digitalen Welt mit

höchst unterschiedlichen Mitteln

und Zielen ab. [Sascha Kösch]

Armin Medosch, Janko Röttgers (Hrsg.):

Netzpiraten. Die Kultur des elektronischen

Verbrechens, Heise/Telepolis 2001, 15 Euro

Pragmatische

Medienphilosophie

Mike Sandbothe setzt modisch adrett

gekleidet zur Denkerpose ein freundliches

Gesicht auf und so könnte man

auch seine Philosophie charakterisieren.

Mit seiner Habilitationsschrift

"Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegungen

einer neuen Disziplin" verankert er

das Denken um die Medien ein weiteres

Mal im Haus der Philosphie.

Schon seit längerem versuchen verschiedene

Medientheorien, sich auf

Dauer als eine Leitdisziplin der Philosophie

einzurichten, bislang zumeist

in der Tradition der Sprachphilosophie

mit dem Argument, dass alles, was

wir sagen, handeln und denken immer

medial vermittelt ist. Doch von Sybille

Krämer, Martin Seel und anderen

Medien-Post-Sprach-Philsophen

grenzt sich Sandbothe explizit ab,

wenn er auch freundlich und befreundet

dabei herüberwinkt. Sandbothes

Denken ist tief vom amerikanischen

Pragmatismus geprägt, vor allem von

Richard Rortry, der die gesamten 241

geschriebene Seiten hindurch als Vaterfigur

aus dem Buch blinzelt, auch

wenn Sandbothe ihm, wie einem wirklichen

Vater eben auch, nicht alles

glaubt - das wäre ja auch noch schöner.

Um gemäß Rorty die Philosophie in

den Dienst der Demokratie zu stellen -

jawohl, analysiert Sandbothe im ersten

Teil Kants pragmatische Ader und erarbeitet

von dort seine Linie der Philosophiegeschichte.

In einem zweiten

Teil konkretisiert er seine pragmatischen

Ansatz an u.a. Derridas Schriftkonzept

als Medienkritik und Wolfgang

Welschs "transversale Vernunft". Und

in einem dritten Teil wendet er sich

mit dieser pragmatisch erarbeiteten

pragmatischen Medienphilosophie

dem Netz zu. Die Richtung, nicht nur

vom Internet neue Impulse für die

Theorie zu erwarten, sondern auch

umgedreht danach zu fragen, ob nicht

die Theorie etwas für das Internet tun

kann, klingt vielversprechend, die Ziele

allerdings muten eher - Verzeihung

- als schwammige Grundwerte an, denen

bohrlochtief zu misstrauen ist. Eine

neue Bewegung zur "pragmatischen

Humanisierung und intelligenten Demokratisierung

des Kapitalismus"? Während der philosophische

Teil einen fundierten

Überblick mit Rortybrille bietet, sackt

die praktische Annäherung an die

Technologie ab, weil sie in der politischen

und technischen Praxis ihre Reflexion

der Begrifflichkeiten aufgibt.

Doch. [Mercedes Bunz]

Mike Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie.

Grundlegung einer neuen Disziplin im

Zeitalter des Internet. Weilerswist, Velbrück

Wissenschaft 2001. 25,05 Euro

Subjekte hören Radio

Dieses Buch ist eine Studie, die Foucaults

Archäologie des Subjektes weiter

treibt und detaillliert an Radio

und Psychotechnik durchspielt, den

zwei Erscheingungsformen von Beginn

des letzten Jahrhunderts. Dominik

Schrage untersucht, auf welche

Weise sich die Formation "Subjekt"

mit dem Siegeszug des Radios und

dem der Psychotechnik bildet und interagiert.

Beides sind typische Techniken,

die in den 20er Jahren populär

gewesen sind und den Menschen,

wenn man das mal so sagen

darf, herausforderten, sich neu zu definieren.

Während die Psychotechnik

die Individualität testete, erlaubte das

Radio, subjektives Erleben kollektiv

hervorzurufen. Wichtig ist die Studie

nicht nur deshalb, weil sie profund

geschrieben ist, sondern vor allem,

weil dieses historische Wissen darum,

wie Technik und Subjekt sich aufeinander

beziehen, angesichts des PC

und des Internets, die zusammen einen

guten Teil Zeit erobert haben, einen

wappnet. Wappnet für die Frage

danach, wie wir uns durch das Internet

verändern oder wie das Netz an

uns andockt. Und einen wappnet für

die umgedrehte Frage. Die, wer das

ist, dieses Uns, denn, wie Monsieur

Derrida gerne schelmisch einwirft:

Noch nie ist jemand einem "Wir" im

Wald begegnet. Das mag stimmen.

Für andere Erlebnisse Zuschriften an:

debug Verlags GmbH, Stichwort: Das

Wir im Wald, Brunnenstr. 196, 10119

Berlin. [Mercedes Bunz]

Dominik Schrage: Psychotechnik und Radiophonie.

Subjektkonstruktionen in artifiziellen

Wirklichkeiten 1918-1932. München, Wilhelm

Fink Verlag 2001, EUR 34,76

Künstliches Leben

Noch bis in die Achtziger wurde die

"Künstliche Intelligenz"-Debatte

mit großer Leidenschaft geführt. Mit

dem PC und dem Internet ist die

Technologie vertrauter geworden

und die Angst vor den Maschinen

hat sich verschoben, vielleicht sogar

verringert, denn schließlich hat jetzt

jeder eine künstliche Intelligenz am

Arbeitsplatz oder sogar zu Hause.

Um so überraschender ist, dass Olaf

Kaltenborn mit dem etwas pathetisch

klingenden Titel "Das Künstliche

Leben. Die Grundlagen der Dritten Kultur"

eine sehr interessante und aktuelle

Studie zur KI vorgelegt hat. Vielleicht

gerade, weil Kaltenborn Politikwissenschaftler

ist und nicht Philosoph,

gelingt es ihm in seiner Dissertation

über die klassische Leib-

Seele-Debatte hindurch und darüber

hinaus zu steigen, hinaus zu dem

produktiven Ansatz, die KI als

Machttechnik zu untersuchen. Auffallend:

auch in dieser Arbeit kommt

an Foucault keiner vorbei. [Mercedes

Bunz]

Olaf Kaltenborn: Das Künstliche Leben. Die

Grundlagen der Dritten Kultur. München,

Fink 2001, EUR 34,77

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