Illettrismus - ein Thema der Logopädie? - BSCW
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2.2<br />
Lese- und Rechtschreibkompetenz<br />
Ausgangssituation und Stand <strong>der</strong> Forschung<br />
Bei Illettristen handelt es sich um Personen, <strong>der</strong>en Lese- und Rechtschreibkompetenzen<br />
ungenügend sind. Der Erwerb dieser Kompetenzen ist <strong>ein</strong> langjähriger, komplexer Prozess<br />
und setzt bereits im Vorschulalter gewisse Fähigkeiten voraus, die wir später genauer<br />
erläutern werden. Um zu verstehen was „ungenügende Schriftsprachkompetenzen“<br />
bedeuten, war uns wichtig zu beleuchten, wie diese Kompetenzen unter idealen Umständen<br />
erworben werden und aus welchen Teilfertigkeiten sie zusammengesetzt sind.<br />
„Es geht bei Kompetenzen um <strong>ein</strong> individuelles Potenzial dessen, was <strong>ein</strong>e Person unter<br />
idealen Umständen zu leisten im Stande ist, wobei sich dieses Potenzial in konkreten<br />
Situationen als spezifisches Verhalten bzw. Handeln manifestiert.“ (Messick, 1984; Norris,<br />
1991, zit. nach Groeben, 2002, S.13)<br />
Nach heutiger Sicht ist die Lese- und Rechtschreibkompetenz <strong>ein</strong> Produkt <strong>der</strong> Sozialisation.<br />
Der Erwerb dieser Kompetenz erfolgt – im Unterschied zur mündlichen Sprachfähigkeit –<br />
nicht aufgrund <strong>ein</strong>er angeborenen Disposition, son<strong>der</strong>n aufgrund jahrelanger Lernprozesse,<br />
welche unter stetiger Anweisung des Umfeldes stehen. Die Experten sind sich <strong>ein</strong>ig, dass das<br />
Konstrukt <strong>der</strong> Lesekompetenz aus vielen verschiedenen Teilkompetenzen besteht, die sich<br />
gegenseitig be<strong>ein</strong>flussen. Nach interaktionstheoretischem Ansatz müssen aber auch<br />
situationale Bedingungen und soziale Einflussfaktoren berücksichtigt werden, die mit<br />
dispostitionalen Bedingungen interagieren (vgl. Hurrelmann, 2002).<br />
Das folgende Kapitel wird zunächst <strong>ein</strong>en Überblick über den Erwerb <strong>der</strong> Teilkompetenzen<br />
geben, welche die Lese- und Rechtschreibkompetenz ausmachen. Im Weiteren soll<br />
aufgezeigt werden, wie sich sozialhistorische und individuelle Rahmenbedingungen auf den<br />
Erwerb <strong>der</strong> Kompetenzen auswirken.<br />
2.2.1 Die Entwicklung <strong>der</strong> Lese- und Schreibkompetenz<br />
In den meisten Kulturen machen Kin<strong>der</strong> ihre ersten Erfahrungen mit <strong>der</strong> Schrift noch vor<br />
dem Schul<strong>ein</strong>tritt. Sie sind jeden Tag mit dem Phänomen graphischer Schriftzeichen<br />
konfrontiert. So ist denn auch „<strong>der</strong> Schriftspracherwerb k<strong>ein</strong> zeitlich eng begrenzter, all<strong>ein</strong><br />
schulisch angeregter Vorgang, son<strong>der</strong>n <strong>ein</strong> bereits früh <strong>ein</strong>setzen<strong>der</strong>, mehrstufiger<br />
Entwicklungsprozess, dessen Phasen durch jeweils beson<strong>der</strong>e Aneignungsstrategien<br />
gekennzeichnet sind, die sich darüber hinaus im Wechsel über das Lesen und Schreiben<br />
entfalten“ (Günther zit. nach Kretschmann, 1990, S.48). Laut Schnei<strong>der</strong> (2004) ist <strong>ein</strong><br />
grundlegendes Merkmal neuerer Forschungsansätze darin zu sehen, dass <strong>der</strong> Schul<strong>ein</strong>tritt<br />
nicht länger als die „Stunde Null“ betrachtet wird, son<strong>der</strong>n dass <strong>der</strong> Schulanfänger den Lese-<br />
Rechtschreib-Unterricht mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen beginnt.<br />
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