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Art Quarterly - Luxury can be Art

Art Quarterly ist ein Magazin für alle Kunst- und Kulturliebhaber. Neben zahlreichen Informationen über die aktuelle Kunstszene und den zurzeit laufenden Ausstellungen in Österreich und Deutschland präsentieren wir Ihnen auch immer die aktuellen Top-Beauty-Trends.

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ART TOPIC<br />

DER IN UNSERER GESELLSCHAFT ZUMEIST TABUISIERTE KANNIBALISMUS ERLEBT ZURZEIT SOWOHL IN DEN MEDIEN ALS AUCH IN DER<br />

KUNST EINE PLÖTZLICHE RENAISSANCE. GRUND GENUG SICH AUF EINEN HISTORISCHEN STREIFZUG ZU BEGEBEN, DER UNS EINES DEUTLICH<br />

VOR AUGEN FÜHRT: DAS THEMA IST SO ALT, WIE DIE MENSCHHEIT SELBST, EINE ART DUNKLER BEGLEITER, DER AUF DEN SPUREN DES<br />

AUFSTIEGS UND FALLS JEDER HOCHKULTUR ZU FINDEN IST, DARUM WOHL AUCH BEI DER POPKULTUR.<br />

Text: NIKOLAUS IMMANUEL KÖHLER<br />

Denken wir an Kannibalismus, so fallen<br />

uns wohl zuallererst sadistische Mörder<br />

dieses oder des vergangenen Jahrhunderts<br />

ein. Letzter Meilenstein der medialen Aufar<strong>be</strong>itung<br />

dieses Themas war ganz gewiss<br />

die Affäre rund um Armin Meiwes, den<br />

„Kannibalen von Rothenburg“, weiter entfernt<br />

entsinnen wir uns vielleicht noch Namen<br />

wie Jeffrey Dahmer, Ed Gein oder Fritz<br />

Haarmann, kaum jedoch ist in unserem Bewusstsein<br />

die <strong>be</strong>achtliche Tradition dieses<br />

Themas verankert. Das soll sich nach diesem<br />

Essay grundlegend ändern!<br />

Die Auseinandersetzung mit dem Kannibalen<br />

oder dem traditionell im deutschen<br />

Sprachgebrauch auch als Menschenfresser<br />

<strong>be</strong>kannten Wesen ist stets eine Auseinandersetzung<br />

mit archaischen Mythen und<br />

den daraus resultierenden Ängsten. Das<br />

„Auffressen“ eines menschlichen Wesens<br />

galt seit alters her als etwas ü<strong>be</strong>r alle Maßen<br />

Scheußliches, als etwas schier Unaussprechliches,<br />

da es die totale Auslöschung<br />

des Menschen durch ein anderes Individuum<br />

gleicher Spezies <strong>be</strong>deutete.<br />

Frühe Spuren von Menschenfressern finden<br />

wir <strong>be</strong>reits in der griechischen Mythologie.<br />

Wir treffen dort etwa auf den Riesen<br />

Kronos, einen der zwölf Titanen, Furcht<br />

erregende Riesen in Menschengestalt, die<br />

allesamt Söhne des Uranos (Himmel) und<br />

der Gaia (Erde) waren. Als Uranos seiner<br />

Kinder ansichtig wurde, war er dermaßen<br />

angewidert von seiner Brut, dass er sie allesamt<br />

in die Unterwelt verbannte. Gaia ü<strong>be</strong>rredete<br />

infolge Kronos, den jüngsten der Titanen,<br />

dazu, seinen Vater zu kastrieren und<br />

somit die Macht an sich zu reißen. Als dies<br />

geschehen war, heiratete Kronos kurzerhand<br />

seine Schwester Rhea und zeugte mit<br />

ihr in Erbschande fünf Kinder. Da ihm allerdings<br />

prophezeit worden war, dass eines<br />

seiner Kinder dereinst auch ihn stürzen würde,<br />

gleich wie er es mit seinem Vater getan<br />

hatte, entschloss er sich dazu, seine eigenen<br />

Kinder gleich nach der Geburt mit Haut und<br />

Haaren zu verschlingen. Der Sage nach ü<strong>be</strong>rlebte<br />

nur Zeus als sechstes Kind den Hunger<br />

seines Vaters, da seine Mutter Kronos statt<br />

des Kna<strong>be</strong>n einen Stein reichte, welchen der<br />

Titan auch gleichartig verschlang. So entkam<br />

Zeus dem väterlichen Menschenfresser<br />

und wurde von Nymphen aufgezogen. Später<br />

rang Zeus gegen die Titanen in einem gewaltigen<br />

Kampf, der als Titanomachie <strong>be</strong>kannt<br />

ist. Mit Hilfe der <strong>be</strong>freiten Cyklopen (einäugigen<br />

Geschöpfe) und Hekatoncheiren (Geschöpfe<br />

mit hundert Händen) gewann Zeus<br />

schließlich den Kampf gegen seinen Vater<br />

und zwang Kronos infolge, seine Geschwister<br />

allesamt wieder auszuspucken. Francisco<br />

de Goya stellte die grausige Szene, in der der<br />

Riese Kronos eines seiner Kinder verspeist,<br />

in einem seiner <strong>be</strong>rühmtesten Gemälde <strong>be</strong>sonders<br />

grausig dar. A<strong>be</strong>r auch Peter Paul<br />

Ru<strong>be</strong>ns fand an diesem Motiv gefallen und<br />

schuf um 1636 e<strong>be</strong>nfalls ein Gemälde mit<br />

dem Titel „Kronos verschlingt seinen Sohn“.<br />

An anderer Stelle treffen wir auf Tantalos,<br />

der, um die Allwissenheit der Götter auf die<br />

Pro<strong>be</strong> zu stellen, diesen kurzerhand seinen<br />

eigenen Sohn Pelops als Festmahl vorsetzte.<br />

Zeus ahndete diesen Frevel, indem er Tantalos<br />

in die Unterwelt verbannte. Dort saß er<br />

an einem See klaren Wassers unter Bäumen,<br />

die wunderbare Früchte trugen. Doch jedes<br />

Mal, wenn er essen oder trinken wollte, da<br />

wichen Wasser und Zweige vor ihm zurück,<br />

so dass er zu ewigem Hunger und Durst verflucht<br />

war, was auch als „Tantalusqualen“ in<br />

den Sprachgebrauch einging.<br />

Eine ähnliche Handlungsweise finden wir<br />

später übrigens auch <strong>be</strong>i William Shakespeare,<br />

der in seinem Drama „Titus Andronicus“<br />

den Titelhelden seiner Widersacherin<br />

deren eigene Söhne zu Pasteten gebacken<br />

vorsetzen lässt, welche die unwissende Mutter<br />

auch tatsächlich gleich zu verspeisen <strong>be</strong>ginnt.<br />

In <strong>be</strong>iden Fällen werden wir also mit dem<br />

passiven, von fremder Hand her<strong>be</strong>igeführten<br />

Kannibalismus konfrontiert, einem<br />

Handlungsschema, welches sich in der<br />

Weltliteratur noch vielerorts finden lässt. So<br />

könnte man sich <strong>be</strong>ispielsweise auch fragen,<br />

ob jener Müller, welcher Max und Moritz zu<br />

Mehl gemahlen hat, dies den Konsumenten<br />

seiner Brote denn jemals mitgeteilt hat,<br />

oder ob auch diese völlig unwissend zu Kannibalen<br />

geworden sind.<br />

In der Realität finden sich auch einige Fälle<br />

von widerwärtigem Kannibalismus aus Unwissenheit.<br />

So verkaufte etwa Fritz Haarmann<br />

in der Zeit der großen deutschen Depression<br />

das Fleisch der von ihm getöteten<br />

und geschändeten Kna<strong>be</strong>n in der Nachbarschaft<br />

als rare Delikatessen. Wer weiß, wie<br />

viele brave Bürger in diesen Tagen unvermuteter<br />

Weise anstelle eines Schweinsbratens<br />

ein Stück eines minderjährigen Bahnhofsstrichers<br />

als Sonntagsmahl verspeisten?<br />

A<strong>be</strong>r zurück zu den Ursprüngen der kannibalistischen<br />

Mythen. Bei vielen Völkern galt es<br />

als das Aufnehmen der Seele eines Feindes,<br />

78 AQ JUBILÄUMSAUSGABE<br />

www.art-quarterly.at

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