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Art Quarterly - Luxury can be Art

Art Quarterly ist ein Magazin für alle Kunst- und Kulturliebhaber. Neben zahlreichen Informationen über die aktuelle Kunstszene und den zurzeit laufenden Ausstellungen in Österreich und Deutschland präsentieren wir Ihnen auch immer die aktuellen Top-Beauty-Trends.

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ART TOPIC<br />

wenn man diesen ganz einfach verspeiste.<br />

Durch diesen Vorgang wurden auch gleichsam<br />

seine Kraft, sein Mut und seine Intelligenz<br />

mit einem Male einverleibt, also eine <strong>Art</strong><br />

Genmanipulation am le<strong>be</strong>nden Körper. Andere<br />

rituelle Mahle sollten wiederum das Vergessen<br />

eines lie<strong>be</strong>n Verwandten verhindern.<br />

Indem man also seinen Vater oder Bruder<br />

nach dessen Tod verspeiste, trug man gewissermaßen<br />

ein Stück von ihm unterm Herzen.<br />

Medizinisch <strong>be</strong>trachtet war dies zwar nicht<br />

<strong>be</strong>sonders lange der Fall, doch in der Psyche<br />

jener Urvölker hielt ein solches Mahl ein Le<strong>be</strong>n<br />

lang. Nach dieser unterschiedlichen Intuition<br />

des Menschenfressens unterscheiden<br />

Forscher heutzutage zwischen Endokannibalismus,<br />

dem Verspeisen der eigenen Verwandtschaft,<br />

und Exokannibalismus, dem<br />

Verspeisen von Feinden. Die renommierte<br />

Ethnologin Anna-Maria Brandstetter von<br />

der Universität Mainz stellt zu diesem Thema<br />

fest: „Bei allen Völkern gilt das Verzehren<br />

eines Menschen als ultimativer Angriff auf<br />

dessen Persönlichkeit, als etwas Ungeheuerliches.<br />

Deshalb glau<strong>be</strong> ich nicht an einen kulinarischen<br />

Kannibalismus nur zur Befriedigung<br />

des Hungergefühls.“ Wie verhält es sich<br />

a<strong>be</strong>r in Ausnahmesituationen, <strong>be</strong>ispielsweise<br />

im Falle einer Hungersnot?<br />

Julius Cäsar <strong>be</strong>richtet in seinem „De Bello<br />

Gallico“ <strong>be</strong>ispielsweise von Feinden, die,<br />

nachdem man sie <strong>be</strong>reits monatelang <strong>be</strong>lagert<br />

hatte, aus Le<strong>be</strong>nsmittelknappheit ganz<br />

einfach daran gingen, die Alten und Schwachen<br />

zu töten, um sie danach zu verspeisen.<br />

Er zitiert im sie<strong>be</strong>nten Buch die Rede<br />

des Galliers Arverners Critognatus „... Was<br />

also ist mein Rat? Das zu tun, was unsere<br />

Ahnen im Krieg gegen die Cim<strong>be</strong>rn und<br />

Teutonen taten, der völlig anders aussah.<br />

Unsere Landsleute, die damals in die Städte<br />

zurückgetrie<strong>be</strong>n worden waren und unter<br />

ähnlichem Mangel litten, hielten sich mit<br />

den Körpern derer am Le<strong>be</strong>n, die auf Grund<br />

ihres Alters für den Krieg nicht mehr tauglich<br />

schienen, und erga<strong>be</strong>n sich den Feinden<br />

nicht.“ Weitere ähnliche Fälle sind aus der<br />

kelti<strong>be</strong>rischen Hauptstadt Numantia unter<br />

der Belagerung Publius Cornelius Scipo des<br />

Jüngeren (Aufzeichnungen des Polybios,<br />

134 v. Chr) und Jerusalem (Flavius Josephus<br />

„De Bello Judaico“) ü<strong>be</strong>rliefert.<br />

Also treffen wir <strong>be</strong>reits in diesen Schilderungen<br />

auf eine <strong>Art</strong> von Notanthropophagie,<br />

eine spezielle Form des Kannibalismus,<br />

die sich bis in unsere Tage gerettet hat.<br />

Man nimmt an, dass mehr als zwei Drittel<br />

der Menschheit, auch heute noch, unter<br />

<strong>be</strong>sonders zwingenden Umständen dazu<br />

fähig wären, einen <strong>Art</strong>genossen zu verspeisen.<br />

Immerhin noch ü<strong>be</strong>r 30 Prozent wären<br />

sogar dazu in der Lage, einen Menschen<br />

zu schlachten, um ihn danach aufzuessen,<br />

wenn dies sie vor ihrem eigenen Tod <strong>be</strong>wahren<br />

würde. Diese Ergebnisse fußen auf einer<br />

Studie der Universität von Ohio aus den<br />

Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.<br />

Als in Irland eine Hungersnot die<br />

Menschen dahinraffte, erregt kein geringerer<br />

als der Autor Jonathan Swift, <strong>be</strong>kannt<br />

durch sein Werk „Gullivers Reisen“, großes<br />

Aufsehen, als er in einem <strong>Art</strong>ikel sarkastisch<br />

fragte: „Wenn nur noch wirtschaftliche<br />

Effizienz zählt, warum lösen wir nicht einfach<br />

das ganze Problem, indem wir Kinder<br />

essen?“ Ja, er ging sogar noch weiter und<br />

meinte e<strong>be</strong>n da: „A young healthy child well<br />

nursed, is, at a year old, a most delicious<br />

nourishing and wholesome food, whether<br />

stewed, roasted, baked, or boiled; and I<br />

make no doubt that it will equally serve in a<br />

fricassee, or a ragout.” Wenngleich dies auch<br />

nur als sarkastische Ironie gewertet werden<br />

kann, so führte es doch dazu, dass Mister<br />

Swift in der Folge ein viktorianisches Irrenhaus<br />

von innen sehen durfte.<br />

Biblischer Kannibalismus<br />

Bereits in der Bi<strong>be</strong>l droht Gott selbst mit<br />

jenem furchterregendem Szenario, wie es in<br />

Levitikus 26, Vers 29 heißt: „dass ihr sollt<br />

eurer Söhne und Töchter Fleisch essen!“.<br />

A<strong>be</strong>rmals wird dieses Szenario noch ausgeschmückter<br />

im Deuteronomium 28, Vers 53<br />

bis 57 <strong>be</strong>schrie<strong>be</strong>n. Dort heißt es: „Du wirst<br />

die Frucht deines Lei<strong>be</strong>s, das Fleisch deiner<br />

Söhne, die dir der Herr, dein Gott, gege<strong>be</strong>n<br />

hat, essen in der Angst und Not, mit der<br />

dich dein Feind <strong>be</strong>drängen wird. Ein Mann<br />

unter euch, der zuvor verwöhnt und in Üppigkeit<br />

gelebt hat, wird seinem Bruder und<br />

der Frau in seinen Armen und dem Sohn,<br />

der noch übrig ist von seinen Söhnen, nichts<br />

gönnen von dem Fleisch seiner Söhne, das<br />

er isst, weil ihm nichts übrig geblie<strong>be</strong>n ist<br />

von allem Gut in der Angst und Not, mit<br />

der dich dein Feind <strong>be</strong>drängen wird in allen<br />

deinen Städten. Eine Frau unter euch,<br />

die zuvor so verwöhnt in Üppigkeit gelebt<br />

hat, dass sie nicht einmal versucht hat, ihre<br />

Fußsohle auf die Erde zu setzen, vor Verwöhnung<br />

und Wohlle<strong>be</strong>n, die wird dem<br />

Mann in ihren Armen und ihrem Sohn und<br />

ihrer Tochter nicht gönnen die Nachgeburt,<br />

die von ihr ausgegangen ist, und ihr Kind,<br />

das sie geboren hat; denn sie wird <strong>be</strong>ides<br />

vor Mangel an allem heimlich essen in der<br />

Angst und Not, mit der dich dein Feind <strong>be</strong>drängen<br />

wird in deinen Städten.“ In Hezekiel<br />

5, Vers 10 heißt es dann ü<strong>be</strong>r den Sturz<br />

Jerusalems: „Darum sollen in deiner Mitte<br />

Väter ihre Kinder und Kinder ihre Väter<br />

fressen!“ Freilich nimmt man heute an,<br />

dass die hungernden Mütter im <strong>be</strong>lagerten<br />

Jerusalem lediglich an den <strong>be</strong>reits an Auszehrung<br />

verstor<strong>be</strong>nen Kindern Teknophagie<br />

<strong>be</strong>gangen ha<strong>be</strong>n, dennoch gibt es a<strong>be</strong>r<br />

auch in der Bi<strong>be</strong>l Fälle von vorsätzlicher<br />

Teknophagie. Das 2. Buch der Könige weiß<br />

etwa von einem Betrug zu <strong>be</strong>richten, der<br />

e<strong>be</strong>nfalls mit Teknophagie, also mit Kannibalismus<br />

hinsichtlich des Verspeisens der<br />

eigenen Kinder, zu tun hat. Eine Frau aus<br />

Samaria klagt dort dem König während einer<br />

Belagerung durch das Heer des Königs<br />

von Aram: „Diese Frau da sprach zu mir:<br />

Gib deinen Sohn her, dass wir ihn heute essen;<br />

morgen wollen wir meinen Sohn essen.<br />

So ha<strong>be</strong>n wir meinen Sohn gekocht und gegessen.<br />

Und ich sprach zu ihr am nächsten<br />

Tage: Gib deinen Sohn her und lass ihn uns<br />

essen! A<strong>be</strong>r sie hat ihren Sohn versteckt!“<br />

Es mutet schon etwas schauerlich an, mit<br />

welchem Gleichmut die <strong>be</strong>trogene Frau vom<br />

Verspeisen ihres Kindes <strong>be</strong>richtet, ganz so,<br />

als wäre ein solcher Vorfall zu jener Zeit<br />

nichts Außergewöhnliches gewesen.<br />

Menschenfleisch als Allheilmittel<br />

So soll etwa Richard Löwenherz, während<br />

er 1191 auf dem Dritten Kreuzzug <strong>be</strong>i der<br />

Belagerung der Feste Akkon ernsthaft erkrankte<br />

und geschwächt zu Bette lag, nach<br />

seiner Lieblingsspeise, einem Schweinebraten,<br />

verlangt ha<strong>be</strong>n. Da allerdings in einem<br />

muslimischen Land partout kein Schwein<br />

aufzutrei<strong>be</strong>n war, schlachteten seine Getreuen<br />

kurzerhand einen Ungläubigen, brieten<br />

diesen gar und setzten ihn dem siechen<br />

König zum Mahl vor. Dieser genoss dieses<br />

Gericht sichtlich und war innerhalb weniger<br />

Tage nach diesem außergewöhnlichen Mahl<br />

auch schon wieder <strong>be</strong>i Kräften. Als man ihn<br />

ü<strong>be</strong>r die wahre Herkunft seines Bratens informierte,<br />

so soll er nur voll Verwunderung<br />

gemurmelt ha<strong>be</strong>n: „Was, so gut schmecken<br />

diese Ungläubigen?“.<br />

Es bleibt der Entscheidung des Lesers ü<strong>be</strong>rlassen,<br />

ob dies der Realität entspricht, oder doch<br />

eher den Sagen und Legenden zuzuordnen ist,<br />

doch wie auch immer, so ent<strong>be</strong>hrt diese Geschichte<br />

doch nicht einer gewissen Komik.<br />

Jeanne und Gilles<br />

Die Heilige und der Kannibale<br />

Gerne <strong>be</strong>zichtigte man auch ungeliebte<br />

Personen und Gruppen der Gräueltat<br />

des Menschenfressens oder zumindest der<br />

Verwertung von Teilen des menschlichen<br />

Körpers. Dem französischen Ritter Gilles<br />

de Rais, der von einem einmaligen Zusammentreffen<br />

mit Jeanne d´Arc gänzlich um<br />

den Verstand gebracht worden war und<br />

fortan Kna<strong>be</strong>n folterte, vergewaltigte und<br />

schließlich auf scheußliche <strong>Art</strong> und Weise<br />

ermordete, warf die Heilige Inquisition vor,<br />

er hätte auch Teile seiner Opfer verspeist, da<br />

man eine Unmenge von menschlichen Ge<strong>be</strong>inen<br />

im Kamin seines Schlosses gefunden<br />

ha<strong>be</strong>. Wenngleich Gilles de Rais dermaßen<br />

schockierende Details zu Protokoll gab, wie<br />

dass er <strong>be</strong>ispielsweise hin und wieder gleich<br />

mehreren Leichen die Köpfe abgeschlagen<br />

hätte, um diese dann ne<strong>be</strong>neinander auf seinem<br />

Kaminsims aufzustellen (danach hätte<br />

er seine Dienstboten gerufen und sie <strong>be</strong>finden<br />

lassen, welcher der abgetrennten Köpfe<br />

der schönste sei), so verwehrte er sich doch<br />

bis zuletzt gegen den Vorwurf, Menschenfleisch<br />

verzehrt zu ha<strong>be</strong>n.<br />

Ritualmord als Form des Kannibalismus<br />

In anderen Fällen versuchte man, durch die<br />

Andeutung von Kannibalismus den im Mittelalter<br />

ohnehin blank liegenden Judenhass<br />

zu schüren. So <strong>be</strong>schuldigte man die Juden,<br />

aus dem Blut kleiner Christenkinder satanische<br />

Mazzen zu backen.<br />

Einer der <strong>be</strong>kanntesten heimischen Vorfälle<br />

ist der Ritualmord am dreijährigen Anderl<br />

Oxner aus dem Nordtiroler Dorf Rinn,<br />

welcher sich angeblich am 12. Juli 1462 zugetragen<br />

ha<strong>be</strong>n soll. Man lastete den Mord<br />

ortsfremden Juden an, welche in Folge der<br />

Entdeckung des Verbrechens auch sofort<br />

gelyncht wurden. Als am Ostersonntag des<br />

Jahres 1475 in einem Bach <strong>be</strong>i Trient die<br />

blutleere Leiche des Kna<strong>be</strong>n Simon vom<br />

Juden Samuel gefunden wurde, wurde dieser<br />

auf der Stelle samt einer Vielzahl seiner<br />

jüdischen Gemeindemitglieder des Ritualmordes<br />

<strong>be</strong>zichtigt. In der Folge eines Auf-<br />

80 AQ JUBILÄUMSAUSGABE<br />

www.art-quarterly.at<br />

www.art-quarterly.at JUBILÄUMSAUSGABE AQ 81

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