Ausgabe 1/2008, 24. Jahrgang (pdf, 6.12 MB - Johannes Gutenberg ...
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Quelle: Archives du CIO, Lausanne<br />
SPORT<br />
Der Ideengeber des olympischen Marathonlaufs:<br />
Der Pfälzer Michel Bréal (1832-1915)<br />
Von Norbert Müller<br />
Abb. 1: Briefauszug Bréals an<br />
Coubertin vom 15.09.1894 mit der<br />
Idee des olympischen Marathonlaufs<br />
(rot unterstrichen).<br />
44<br />
Der erste Marathonlauf der Weltgeschichte fand<br />
am 10. April 1896 im Rahmen der ersten Olympischen<br />
Spiele in Athen statt. Überraschungssieger<br />
wurde ein Grieche, geehrt mit einem Pokal aus<br />
feinster französischer Juwelierarbeit.<br />
Die Wiedereinführung der Olympischen Spiele stellt<br />
einen Höhepunkt der Antikenrezeption des 19. Jahrhunderts<br />
dar. Beschlossen wurde sie am 23. Juni<br />
1894 in der Sorbonne zu Paris, und zwar im Rahmen<br />
eines Kongresses, der zunächst die Gründung eines<br />
Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zum<br />
Ziel hatte. An diesem Kongress nahmen 78 Personen<br />
teil, die von 37 Sportorganisationen aus neun Ländern<br />
gesandt worden waren (vgl. 1). In der gedruckten<br />
Liste der Teilnehmer suchen wir allerdings vergeblich<br />
nach dem 1832 in Landau in der Pfalz geborenen<br />
Altphilologen und Sprachforscher Michel Bréal.<br />
Der Landauer Rechtsanwaltssohn entstammte einer<br />
angesehenen jüdischen Familie (vgl. 2). und war<br />
schon seit 1866 Professor für vergleichende Literaturwissenschaft<br />
am Collège de France sowie seit<br />
1875 Mitglied des Institut de France. Wir begegnen<br />
ihm auch nicht in den Protokollen des Kongresses, in<br />
denen auch von einer möglichen olympischen Disziplin<br />
„Marathonlauf“ keine Rede ist. Erst beim<br />
Schlussbankett saß der berühmte Bréal am<br />
Ehrentisch und hielt eine viel beachtete Rede, indem<br />
er den neuen olympischen Wahlspruch „citius-altiusfortius“<br />
(schneller, höher, stärker) begeisternd interpretierte.<br />
Was hat nun Michel Bréal in der olympischen<br />
Geschichte unsterblich gemacht? Es ist sein Brief<br />
vom 15. September 1894, den er aus dem schweizerischen<br />
Glion an Baron Pierre de Coubertin schrieb,<br />
den Initiator der Konferenz und zweiten Präsidenten<br />
des IOC (1896-1925). Darin schlägt er vor, in das Programm<br />
der Olympischen Spiele von Athen 1896<br />
einen Lauf von Marathon zum Pnyx, dem berühmten<br />
Versammlungsort der Athener, als offiziellen olympischen<br />
Wettbewerb aufzunehmen (Abb. 1). Gleichzeitig<br />
bietet er an, für den Sieger den Pokal zu stiften<br />
(Abb. 2). Der für die Ursprungsfrage des Marathonlaufs<br />
wichtigste Satz steht am Ende des Briefes und<br />
hat folgenden Wortlaut: „Wenn Sie nach Athen<br />
gehen, könnten Sie doch versuchen, ob nicht ein Lauf<br />
von Marathon zum Pnyx organisiert werden kann.<br />
Das würde den antiken Charakter unterstreichen.<br />
Wenn wir die Zeit, die der griechische Soldat (für<br />
diese Strecke) gebraucht hat, kennen würden, könnten<br />
wir einen Rekord führen. Für meine Person beanspruche<br />
ich die Ehre, den ‚Marathon-Pokal’ zu stiften.“<br />
Coubertin muss Bréal kurz zuvor über seinen<br />
geplanten Athen-Besuch informiert haben. Dieser<br />
war nötig, um den Beschluss des Kongresses zur<br />
Abhaltung der ersten Olympischen Spiele 1896 vor<br />
Ort voranzutreiben. Auf jeden Fall bezieht sich der<br />
Vorschlag, einen Marathonlauf durchzuführen, eindeutig<br />
auf die geplante Griechenlandreise Coubertins<br />
Ende Oktober 1894.<br />
Bréal brauchte Coubertin von seiner Idee nicht<br />
lange zu überzeugen. Von entscheidendem Einfluss<br />
für Coubertins Antikenbild war nach eigenem Bekunden<br />
seine Gymnasialzeit am Pariser Jesuitenkolleg in<br />
der Rue de Madrid. Mehrfach erwähnte er einen Lehrer,<br />
den Jesuitenpater Jules Carron, der ihm die Liebe<br />
zur Antike beigebracht habe. Carron unterrichtete<br />
Coubertin im Fach Rhetorik, das am Ende der weiterführenden<br />
klassischen Studien in der Altersstufe der<br />
15-17jährigen täglich auf dem Stundenplan stand.<br />
Angesichts der Fülle griechischer und lateinischer<br />
Autoren, die dabei studiert wurden, ist davon auszugehen,<br />
dass Coubertin die Überlieferungen zur<br />
Schlacht bei Marathon gut kannte – und damit auch<br />
die Legenden, die sich mit dem Lauf jenes athenischen<br />
Kriegers verbanden, der die Siegesmeldung<br />
den Athenern überbrachte und danach tot zusammengebrochen<br />
sein soll (vgl. 3).