Ausgabe 1/2008, 24. Jahrgang (pdf, 6.12 MB - Johannes Gutenberg ...
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Quelle: Privat<br />
GESCHICHTE<br />
58<br />
1943 zeichnete Leutnant Klaus<br />
Hubbuch das Lager Trent Park.<br />
Der Verfasser stieß 2001 in den britischen<br />
National Archives in London auf umfangreiche Aktenbestände<br />
des Combined Services Detailed<br />
Interrogation Centre (CSDIC). Dieser faszinierende<br />
Quellenbestand stellt die Forschung zur Mentalität<br />
sowohl der Wehrmacht als auch der italienischen<br />
Armee auf eine neue Grundlage. Die im September<br />
1939 gegründete Organisation hatte die Aufgabe, für<br />
alle drei Teilstreitkräfte (Luftwaffe, Heer, Marine) Informationen<br />
von feindlichen Kriegsgefangenen zu<br />
sammeln. Diese kamen zunächst in Durchgangslager,<br />
wo einige Tausend Männer vom einfachen Soldaten<br />
bis zum General zum weiteren Verhör ausgewählt<br />
wurden. Diese schickte man in das nördlich von London<br />
gelegene Speziallager Trent Park, und ab August<br />
1942 aufgrund der steigenden Gefangenenzahlen<br />
auch in die Lager Latimer House und Wilton Park,<br />
ebenfalls in der Nähe von London. Weitere Abhörlager<br />
entstanden in Kairo,<br />
in Malta, 1944 auch in<br />
Italien und Frankreich. Hier<br />
wurden die Gefangenen<br />
nicht nur ausführlich befragt,<br />
sondern ihre Gespräche,<br />
die sie in den<br />
Aufenthaltsräumen und<br />
mit den Zellenkameraden<br />
führten, auch systematisch<br />
abgehört. Mit allerlei Tricks<br />
versuchte das CSDIC, das<br />
militärische Wissen der Gefangenen<br />
anzuzapfen. Zur<br />
Lenkung der Gespräche<br />
setzte man Exilanten und<br />
kooperationsbereite Gefangene als Spitzel ein. Weiterhin<br />
legte man Gefangene etwa gleichen Dienstranges,<br />
aber unterschiedlicher Einheiten und Waffengattungen<br />
zusammen. Die Methode erwies sich<br />
als überaus effektiv: So erzählten U-Boot-Fahrer Soldaten<br />
des Heeres in aller Ausführlichkeit ihre Erlebnisse,<br />
Waffen-SS-Männer diskutierten mit Heeressoldaten<br />
über den Krieg im Osten und im Westen. Die<br />
Soldaten kamen bereits wenige Tage nach ihrer Gefangennahme<br />
in die Speziallager und standen dort<br />
noch unter dem unmittelbaren Eindruck der oft dramatischen<br />
Umstände ihrer Gefangennahme. Aus diesen<br />
Erlebnissen resultierte vielfach ein besonders<br />
starkes Mitteilungsbedürfnis. Schließlich waren die<br />
Männer oft nur knapp dem Tod entronnen.<br />
Die Gesprächsprotokolle dokumentieren, wie<br />
ungezwungen sich die deutschen und italienischen<br />
Soldaten miteinander unterhielten und dass sie<br />
offenbar nicht damit rechneten, abgehört zu werden.<br />
Die Sichtung des Materials zeigt, dass militärische<br />
Geheimnisse in den Gesprächen ebenso unbedenklich<br />
preisgegeben wurden, wie die eigene Beteiligung<br />
an Kriegsverbrechen. Tagebücher von Gefangenen<br />
belegen einmal mehr, dass diese vollkommen<br />
ahnungslos waren. Nur in einem Fall lässt sich nach-<br />
weisen, dass die versteckten Mikrofone entdeckt<br />
wurden. Natürlich kann man nicht für jeden der über<br />
10.000 deutschen und italienischen Gefangenen den<br />
Nachweis erbringen, dass er nicht mit einem Lauschangriff<br />
rechnete. Die Quellen zeigen aber, dass sich<br />
diejenigen, die sich mit ihren Kameraden austauschen<br />
wollten, dies ohne besondere Rücksichten<br />
taten (7).<br />
Die mitgehörten Gespräche wurden in Wortprotokollen<br />
dokumentiert und liegen in der Originalsprache<br />
und einer englischen Übersetzung vor. Insgesamt<br />
sind allein in den Lagern in Großbritannien<br />
16.960 Abhörprotokolle von 10.195 deutschen und<br />
1.943 Abhörprotokolle von 563 italienischen Gefangenen<br />
erstellt worden. Hinzu kommen einige hundert<br />
Gefangene, die in den Lagern in Ägypten, Malta,<br />
Italien und Frankreich belauscht worden sind. Der<br />
Quellenbestand umfasst rund 53.000 Seiten. Der Verfasser<br />
stellte ihn 2004 erstmals vor (8), 2005 folgte<br />
eine Auswahledition von 189 Abhörprotokollen deutscher<br />
Generäle, die ein außerordentlich positives<br />
Echo hatte (9) und den außerordentlichen Quellenwert<br />
publik machte. Die Erschließung, Auswertung<br />
und Interpretation des Gesamtbestandes konnte dadurch<br />
naturgemäß noch nicht geleistet werden.<br />
Dies ist nun die Aufgabe eines interdisziplinären<br />
und internationalen Forschungsprojekts, das die<br />
Gerda-Henkel-Stiftung mit 210.000,- Euro fördert.<br />
Der Essener Sozialpsychologe Professor Harald<br />
Welzer und der Verfasser leiten in Verbindung mit<br />
dem Deutschen Historischen Institut in Rom und in<br />
Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte in<br />
München eine Arbeitsgruppe, die mit dem Sozialpsychologen<br />
Dr. Christian Gudehus, dem italienischen<br />
Zeithistoriker Dr. Amedeo Osti Guerrazzi und dem<br />
Mainzer Doktoranden Sebastian Groß bislang drei<br />
Mitarbeiter hat. Im Verlauf des nächsten Jahres werden<br />
vier Mainzer Magisterkandidaten und -kandidatinnen<br />
hinzu stoßen und ihre Abschlussarbeit in dieser<br />
internationalen Arbeitsgruppe verfassen.<br />
Ziel ist es, das Kriegserlebnis, die Sinnkonstruktionen<br />
der Soldaten, die Erfahrungen des Todes, die<br />
Wahrnehmung der Binnenstruktur der Armee, die<br />
Deutung von Verbrechen, das Verhältnis zur Staatsideologie<br />
sowie Wahrnehmung des Gegners und der<br />
Verbündeten im deutsch-italienischen Vergleich zu<br />
analysieren und so die Grundlage für eine Mentalitätsgeschichte<br />
der deutschen und der italienischen<br />
Wehrmacht zu schaffen. Sozialpsychologie und Geschichtswissenschaft<br />
ergänzen sich dabei geradezu<br />
ideal. Die historische Analyse erschließt für die Sozialpsychologie<br />
einen Fundus reichhaltigen und besonders<br />
wertvollen Materials – eine einzigartige<br />
Grundlage, um Wahrnehmungen und Deutungen in<br />
der Extremsituation des Krieges und in totalitären<br />
politischen Systemen zu untersuchen. Gleichzeitig<br />
wird die militärisch-politische Lage zum Zeitpunkt