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Ausgabe 1/2008, 24. Jahrgang (pdf, 6.12 MB - Johannes Gutenberg ...

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SPRACHWISSENSCHAFT<br />

Abb. 2: Umschlag des Wörterbuchs<br />

54<br />

Abb. 3: Beispiel eines<br />

Neologismus aus dem<br />

neuen Wörterbuch.<br />

meinsprache Eingang gefunden haben bzw. tendenziell<br />

auf dem Weg dorthin sein. Das größte Problem<br />

war dabei, wie man den Zeitpunkt des Aufkommens<br />

eines Wortes bestimmen kann. Woher weiß man, ob<br />

ein gefundener datierter Beleg, zum Beispiel in einem<br />

Wörterbuch, die tatsächliche Entstehungszeit dokumentiert?<br />

Und wann tritt der Zeitpunkt ein, wo ein<br />

neu aufgekommenes Wort, ein Okkasionalismus, zum<br />

Allgemeingut, zum Neologismus, wird? Schließlich –<br />

wann verliert ein neues Wort seinen Neuheitscharakter,<br />

wird zur „normalen“ lexikalischen Einheit?<br />

Wenn ein Wort zum ersten Mal in einem allgemeinen<br />

Wörterbuch auftaucht, sprechen einige Autoren<br />

von so genannten lexikografischen oder<br />

Wörterbuch-Neologismen; für andere hört in diesem<br />

Moment der Neologismus auf, ein Neologismus zu<br />

sein. In diesem Sinne wären etwa deutsche Wörter<br />

wie probiotisch, kultig und Cybersex, die nachweislich<br />

in den neunziger Jahren in Gebrauch kamen und<br />

bereits im großen Dudenwörterbuch erfasst sind,<br />

keine Neologismen mehr. Nach unserer Auffassung<br />

behält ein neues Wort, auch wenn es in einem allgemeinen<br />

Wörterbuch bereits verzeichnet ist, noch für<br />

eine Weile seinen Neuheitswert.<br />

Mit derartigen Einordnungsproblemen waren<br />

die Autoren in ihrer Arbeit allenthalben konfrontiert.<br />

Insgesamt wurde durch ein aufwändiges Auswahlverfahren<br />

– Quellen waren neue Wörterbücher,<br />

Frequenzlisten, elektronische Korpora, Pressetexte<br />

und das Internet – ein Korpus von etwa 3.500 neuen<br />

Wörtern, Wortbedeutungen und Wortgruppen<br />

geschaffen, das unserem zeitlichen Kriterium weitgehend<br />

entsprach. Das Material unseres Wörterbuchs<br />

gibt vielfältige Auskünfte über die Veränderungen in<br />

der Lexik, das heißt im Wortschatz beider Sprachen.<br />

Es bestätigt sich, dass sich der Wortschatzzuwachs<br />

vor allem im substantivischen Bereich abspielt. Das<br />

überrascht nicht, denn der Hauptgrund für die Entstehung<br />

neuer Wörter ist die Schließung von Benennungslücken;<br />

sehr oft wird dabei zusammen mit der<br />

Sache auch die neue Benennung übernommen, meist<br />

aus dem Englischen; Beispiele sind body, catering,<br />

curling, label, outsourcing, news, update oder auch<br />

sitcom (Abb. 3). Die Mechanismen zur Bildung neuer<br />

Wörter mit eigensprachlichen Mitteln sind dennoch<br />

weiterhin wirksam und es scheint, als würde sich im<br />

Polnischen öfter als im Deutschen die heimische<br />

Wortbildung gegenüber dem Fremdwort behaupten,<br />

wie die folgenden Beispiele zeigen: ‚Software’ ist im<br />

allgemeinen Sprachgebrauch oprogramowanie, nur<br />

unter Spezialisten funktioniert software. Digitalny<br />

findet man im Polnischen äußerst selten, es wird in<br />

den meisten Verbindungen durch das heimische<br />

cyfrowy ‚Ziffer-’ ersetzt, also heißt es technika cyfrowa<br />

– ‚Digitaltechnik’, cyfryzacja und digitalizacja –<br />

‚Digitalisierung’ bestehen nebeneinander. Andererseits<br />

ist das deutsche Wort ‚Wegfahrsperre’ im<br />

Polnischen immobilizer und das polnische grant steht<br />

für das deutsche ‚Stipendium’.<br />

Der neue Wortschatz spiegelt zugleich die gesellschaftlich-soziale<br />

Situation Polens nach 1989<br />

wider. Und hier gibt es viel Kreativität bei der Versprachlichung<br />

von Konzepten, die den Übersetzer –<br />

auch der Lexikograf ist schließlich in der Position des<br />

Übersetzers – in Bedrängnis bringen. Lexik, die eine<br />

unterschiedliche Akzentsetzung der Sprachträger bei<br />

der Wahrnehmung der Wirklichkeit offenlegt oder<br />

unterschiedliche Phänomene benennt, gibt wenig<br />

Hoffnung auf das Vorhandensein einer lexikalisierten<br />

Entsprechung in der jeweils anderen Sprache. Man<br />

kann in diesen Fällen nur die Bedeutung sehr ausführlich<br />

beschreiben und so dem Übersetzer eine<br />

Hilfestellung bei der Suche nach kontextuellen<br />

Lösungen geben, vgl. blokers (von ‚Block’) –<br />

„Jugendlicher aus den Plattenbau-Wohnsiedlungen,<br />

der sich von der Gesellschaft nicht angenommen<br />

fühlt und deshalb, oft im Verband einer Gang, zu Gewalthandlungen<br />

neigt“, oder dresiarz (wörtlich<br />

‚Dressträger’) – „Vertreter einer aggressiven polnischen<br />

Jugend-Subkultur, oft aus sozial schwachem<br />

Milieu, äußerlich erkennbar am Outfit: Trainingsdress,<br />

Muskelshirt, Goldkettchen u. Ä“. Für das Deutsche<br />

sind in Abhängigkeit vom Kontext mehrere Entsprechungen<br />

denkbar, wie Rowdy, Proll, Assi, Prolet, die<br />

jedoch alle im Unterschied zu dresiarz deutliche stilistische<br />

Unterschiede zeigen.<br />

Neue Wörter schließen aber nicht nur Benennungslücken,<br />

sie bedienen auch als Zweitbenennungen<br />

die expressive Funktion der Sprache. Vor allem<br />

die Jugendsprache ist bekanntlich sehr schöpferisch,<br />

wenn es um die Erneuerung von Wörtern geht, deren<br />

Expressivität sich im alltäglichen Gebrauch abgenutzt<br />

bzw. verschlissen hat. Im Zuge der Demokratisierung<br />

der Sprache gelangen diese Neubildungen<br />

aus Soziolekten, aus dem Substandard und anderen<br />

Varietäten in die Allgemeinsprache. Die deutschen<br />

Adjektive super, spitze(nmäßig), abgefahren, abgedreht,<br />

fett, cool, hammermäßig, (super)geil, krass (wo<br />

es früher klasse, prima, dufte usw. hieß) dokumentieren<br />

diesen Erneuerungsmechanismus anschaulich. Im<br />

Polnischen finden wir czadowy, czaderski, cool, odlotowy,<br />

odjechany, odjazdowy, jazzy, aus dem<br />

Substandard zajebisty. Hier gibt es in beiden<br />

Sprachen sehr viele heimische Bildungen, offensicht-

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