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Aphoristic Writings, Notebook, and Letters to a Friend, by Otto ...

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allein aufgezogen und erzogen werden, weil hier die Seele sich so verloren hat; darum<br />

ist das Menschenkind so hilflos und schwach und (Kindersterblichkeit!) der<br />

Todesgefahr soviel näher, als der Erwachsene und leidet der Mensch an<br />

Kinderkrankheiten, welche Tier und Pflanze nicht kennen.<br />

––––––––––––<br />

Hätte der Mensch sich nicht verloren bei der Geburt, so müßte er sich nicht suchen<br />

und wiederfinden.<br />

––––––––––––<br />

„Die Welt ist meine Vorstellung“ – daß dies ewig wahr ist und nicht widerlegt<br />

werden kann, muß einen Grund haben. Alle diese Dinge, die ich sehe, sind nicht die<br />

volle Wahrheit, sie verhüllen das höchste Sein noch immer vor dem Blicke. Als ich<br />

ward, verlangte ich aber nach diesem Selbstbetrug und diesem Schein. Als ich auf<br />

diese Welt kommen wollte, verzichtete ich darauf, bloß die Wahrheit zu wollen. Alle<br />

Dinge sind nur Erscheinungen, d.h. sie spiegeln mir immer nur meine Subjektivität<br />

wieder.<br />

––––––––––––<br />

So wie sich der Mensch zu jeder kleinsten und unbedeutendsten seiner<br />

psychischen Regungen verhält, so Gott zum Menschen. Beide suchen sich in jenen zu<br />

offenbaren und zu verwirklichen.<br />

––––––––––––<br />

Dem Verbrecher ist es angenehm, wenn viel verbrecherische Menschen da sind.<br />

Denn er sucht den Mitschuldigen, er kann keinen Richter brauchen; er will den<br />

Richter, das Gute, aus der Welt schaffen und dem Nichts allein Realität geben. Darum<br />

fühlt er sich von Widerspruch befreit und entlastet, wenn der <strong>and</strong>ere auch so ist, wie<br />

er.<br />

––––––––––––<br />

Der Verbrecher ist der Gegenpol des sich schuldig fühlenden Menschen. Denn<br />

dieser nimmt seine Schuld auf sich, der Verbrecher gibt sie dem <strong>and</strong>eren: Er rächt und<br />

straft den <strong>and</strong>eren für sich: So erklärt sich der Mord.<br />

––––––––––––<br />

Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, daß er endgültig<br />

böse wird; der gemeine Mensch muß zum Tode durch ein richterliches Urteil<br />

gezwungen werden. Das Gefühl seiner Immoralität ist dem anständigen gleich einem<br />

Todesurteil; er erkennt sich nicht einmal zum Raume, den er einnimmt, die<br />

Berechtigung mehr zu, er verkriecht sich, verkleinert sich, krümmt sich zusammen,<br />

möchte vergehen, zum Punkte zusammenschrumpfen. Die Moralität hingegen erkennt<br />

sich als ihr Recht das ewige Leben und den größten Raum, d. i. Raumlosigkeit oder<br />

Allgegenwart zu.<br />

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