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Aphoristic Writings, Notebook, and Letters to a Friend, by Otto ...

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Der Selbstmörder ist fast stets Sadist; weil dieser allein aus einer Gegenwart<br />

heraus wollen und h<strong>and</strong>eln kann; der Masochist müßte erst alle Ewigkeit befragen, ob<br />

er sich töten dürfe, müsse.<br />

Der Sadist sucht Menschen (wider ihren Willen, ihre konstante Disposition) zu<br />

(momentanem) Glück oder Schmerz zu verhelfen: er ist dankbar oder rachsüchtig.<br />

In Dankbarkeit und Rachsucht liegt stets Mitleidlosigkeit, Rücksichtslosigkeit<br />

gegen den (zeitlosen) Nebenmenschen; beide sind, wie alle Unsittlichkeit,<br />

Grenzüberschreitungen, d. i. funktionelle Verknüpfungen mit dem Nebenmenschen.<br />

Psychische Schamhaftigkeit, d. h. Kontinuität, die einen einzelnen Inhalt nicht<br />

leicht aus dem Ich entläßt (vgl. „Geschlecht und Character“, 1. Aufl., S. 436), ist<br />

masochistisch.<br />

––––––––––––<br />

Die heutige Gesundheitspflege und Therapie ist eine unsittliche, und darum<br />

erfolglose: sie sucht von außen nach innen, statt von innen nach außen zu wirken. Sie<br />

entspricht dem Tä<strong>to</strong>wieren des Verbrechers: dieser verändert sein Äußeres von außen<br />

her, statt durch eine Änderung in der Gesinnung. Er verneint so eigentlich auch sein<br />

Äußeres und mag deshalb nicht in den Spiegel sehen, weil er sich (das intelligible<br />

Wesen) haßt, ohne Bedürfnis, sich zu lieben. Der Verbrecher freut sich, wenn <strong>and</strong>ere<br />

an ihm Ans<strong>to</strong>ß nehmen (wie ihm überhaupt jede Verbindung mit <strong>and</strong>eren, jeder<br />

Einfluß auf sie, jede Beunruhigung ihrer Person durch seine angenehm ist).<br />

Jede Krankheit hat psychische Ursachen; und jede muß vom Menschen selbst,<br />

durch seinen Willen, geheilt werden: er muß sie innerlich selbst zu erkennen suchen.<br />

Alle Krankheit 61 ist nur unbewußt gewordenes, „in den Körper gefahrenes“<br />

Psychische; so wie dieses ins Bewußtsein hinaufgehoben wird, ist die Krankheit<br />

geheilt.<br />

Der Verbrecher im allgemeinen wird nicht krank; seine Erbsünde ist eine <strong>and</strong>ere.<br />

Such’ ich mir das ganz sinnenfällig vorzustellen, so geht es etwa so: der Verbrecher<br />

stürzt im Augenblick des Sündenfalles vom Himmel auf die Erde, indem er Gott den<br />

Rücken zukehrt, auf den Punkt, auf dem er stehen könne, jedoch wohl achtet. Der<br />

<strong>and</strong>ere, der Kranke (Neurastheniker, Irrsinnige) stürzt mit flehentlich zu Gott<br />

erhobenem Gesicht und Antlitz, und ohne Bewußtsein und Aufmerksamkeit dafür, wo<br />

er zu liegen komme. Wenn die Gefahr des letzteren die Pflanze, die des ersteren das<br />

Tier ist, so reimt sich das wohl: die Pflanze wächst vom Erdmittelpunkt senkrecht<br />

weg gerade dem Himmel entgegen; der Blick des Tieres ist gegen die Erde gerichtet.<br />

(Die Pflanze kann nie als antimoralisches Symbol gelten, wie soviele Tiere.)<br />

––––––––––––<br />

Jedermann kann sich selbst immer bloß als Qualität auffassen; erst durch<br />

Vergleichung mit <strong>and</strong>eren werden quantitative Betrachtungen nahegerückt. Zahl und<br />

Zeit.<br />

61 Nicht nur die Hysterie. [Rappaport]<br />

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