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Aphoristic Writings, Notebook, and Letters to a Friend, by Otto ...

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Last, Leder, Lernen, lahm, letum, lechzen, links.<br />

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Grundzug alles Menschlichen: Suchen nach Realität. Wo die Realität gesucht und<br />

gefunden wird, das begründet alle Unterschiede zwischen den Menschen.<br />

––––––––––––<br />

Was der Mensch erlebt, sind jeweilig abgehobene Teile aus einer unendlichen,<br />

zeitlichen, räumlichen, s<strong>to</strong>fflichen, farbigen, klingenden Mannigfaltigkeit. Darum sind<br />

zunächst zweierlei Dinge möglich: Er sucht die Realität im Ganzen, in der Totalität<br />

des Alls und seinem unendlichen Zusammenhang; oder ihm wird zur Realität jedes<br />

einzelne, sozusagen punktuelle Element des Weltganzen. Es ist ganz dieselbe Welt,<br />

ihrer Quantität nach gleich, ganz gleich unendlich; aber dem einen ist der Teil immer<br />

nur Teil und nur soweit real, als er im ganzen mitbegründet ist. Der <strong>and</strong>ere umspannt<br />

die gleiche Welt; aber jedes einzelne Element besteht ihm für sich als real, und er<br />

sucht unter allen den Teil von größter Realität.<br />

Auf das Religiöse angewendet (denn beide Typen können fromm sein): Dem<br />

letzteren kann die Sonne selbst oder eine his<strong>to</strong>rische Gestalt selbst, oder die Madonna<br />

selbst, an und für sich, zur Gottheit werden. Dem <strong>and</strong>eren wird immer nur soweit ein<br />

einzelnes Ding Gott, als es symbolisch ist für das Ganz, und um so eher, je mehr<br />

Dinge in ihm zusammenhängen.<br />

Auf das Sexuelle angewendet: Dem einen ist das einzelne Weib real; es ist der<br />

Sadist: Der Sadist wirkt darum auf das Weib, weil es für ihn die denkbar größte<br />

Realität ist (vgl. Geschlect und Charakter, 1. Aufl. S 397 bis 401); dem Masochisten<br />

hingegen ist das einzelne Weib nie real, er sucht in ihm immer noch nach etwas<br />

<strong>and</strong>erem, als nach dem Weibe. Darum wirkt er nicht auf das Weib.<br />

Der Sadist lebt diskontinuierlich in einzelnen Zeitmomenten, er versteht sich nie:<br />

Jeder Augenblick hat für ihn an sich schon Realität; darum ist er leicht entschlossen,<br />

indes der Masochist immer erst aus dem All heraus h<strong>and</strong>eln könnte. Der Masochist<br />

kommt nie in die Lage, sich selbst zu fragen: „Wie hab’ ich das nur tun können? Ich<br />

verstehe mich nicht!“ Dem Sadisten ist dies die gewöhnliche Stellung zu seiner<br />

Vergangenheit, die für ihn jedoch darum durchaus ihre punktuelle Realität nicht<br />

verliert. Der Sadist hat das feinste Auffassungsvermögen und das beste Gedächtnis für<br />

alles Einzelne im Moment; seine Sinne sind fortwährend beschäftigt, weil alles<br />

Einzelne für ihn Realität hat. Der Masochist leidet unter langen Pausen, die er mit<br />

keiner Realität ausfüllen kann.<br />

Unter dem, was ihm irreal ist, leidet nämlich der Masochist wie unter einer<br />

Schuld. Darum fühlt er sich vor dem Weibe verlegen, der Sadist nie. Er ist dem<br />

Weibe gegenüber passiv, wie jeder Empfindung gegenüber, der er erst durch<br />

Assoziation, die zuletzt zur Begriffsbildung führt, eine Realität für sich geben kann.<br />

Der Sadist assoziiert nicht: er reißt der Empfindung gegenüber den Mund auf, bereit<br />

und willens, sich ganz in sie zu stürzen, ganz und gar in einer Empfindung<br />

aufzugehen.<br />

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