Aphoristic Writings, Notebook, and Letters to a Friend, by Otto ...
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Ein Mensch kann innerlich an nichts <strong>and</strong>erem zugrunde gehen, als an einem<br />
Mangel an Religion.<br />
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Warum streben das Etwas und Nichts immer gegen ein<strong>and</strong>er? Warum wird der<br />
Mensch geboren, warum will der Mann zum Weibe? Das Problem der Liebe ist, so<br />
sehen wir hier, das Problem der Welt, das Problem des Lebens, das tiefste,<br />
unauflösbarste, der Drang der Form, Materie zu formen, der Drang des Zeitlosen in<br />
die Zeit, des Raumlosen in den Raum. Dieses Problem treffen wir überall an: es ist<br />
das Verhältnis der Freiheit zur Notwendigkeit. Der Dualismus in der Welt ist das<br />
Unbegreifliche: das Motiv des Sündenfalles ist das Rätsel, der Grund und Sinn und<br />
Zweck des Absturzes vom zeitlosen Sein, vom ewigen Leben ins Nichtsein, ins<br />
Sinnenleben, in die irdische Zeitlichkeit; der Fall des Schuldfreien in die Schuld. Ich<br />
vermag nie einzusehen, warum ich die Erbsünde beging, wie das Freie unfrei werden<br />
konnte. Und warum?<br />
Weil ich eine Sünde erst erkennen kann, wenn ich sie nicht mehr begehe. Darum<br />
kann ich das Leben nicht begreifen, solange ich das Leben begehe, und die Zeit ist das<br />
Rätsel, weil ich sie noch nicht überwunden habe. Erst der Tod kann mich den Sinn des<br />
Lebens lehren. Ich stehe in der Zeit und nicht über der Zeit, ich setze die Zeit noch<br />
immer, verlange noch immer nach dem Nichtsein, wünsche noch immer das<br />
materielle Leben; und weil ich in dieser Sünde stehe, vermag ich sie nicht zu fassen.<br />
Was ich erkenne, außerhalb dessen steh’ ich bereits. Meine Sündhaftigkeit kann ich<br />
nicht begreifen, weil ich immer noch sündhaft bin.<br />
Der Verbrecher und der Irrsinnige leben diskontinuierlich.<br />
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Der Mensch lebt solange, bis er entweder in das Absolute oder in das Nichts<br />
eingeht. Er bestimmt selbst in Freiheit sein künftiges Leben: er wählt Gott oder das<br />
Nichts. Er vernichtet sich selbst oder schafft sich selbst zum ewigen Leben. Ein<br />
doppelter Progreß ist für ihn möglich: der zum ewigen Leben (zur vollkommen<br />
Weisheit und Heiligkeit, zu einem der Idee des Wahren und Guten völlig adäquaten<br />
Zust<strong>and</strong>e) und dem zur ewigen Vernichtung. Nach einer dieser beiden Richtungen<br />
aber schreitet er immer fort: ein drittes gibt es nicht.<br />
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Weil die Zeit einsinnig ist, darum interessiert uns weniger der Zust<strong>and</strong> vor unserer<br />
Geburt. Unsere Geburt setzt etwas Neues, beginnt eine neue Reihe.<br />
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Die Wissenschaft ist asexuell, weil sie resorbiert, der Künstler ist sexuell, weil er<br />
emaniert.<br />
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