atw - International Journal for Nuclear Power | 04.2019
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<strong>atw</strong> Vol. 64 (2019) | Issue 4 ı April<br />
Das neue Strahlenschutzrecht (II): Die Freigabe<br />
196<br />
SPOTLIGHT ON NUCLEAR LAW<br />
Christian Raetzke<br />
Die Freigabe – also grob gesagt die Entlassung von Reststoffen, die aus dem Kontrollbereich kerntechnischer Anlagen<br />
stammen, aus dem Regelungsbereich des Atom- und Strahlenschutzrechts und damit aus der atomrechtlichen Aufsicht,<br />
woran sich in der Regel die konventionelle Entsorgung anschließt – ist gerade im Zusammenhang mit dem umfangreichen<br />
Rückbau der deutschen Kernkraftwerke von großer praktischer Bedeutung. Insofern ist es zu begrüßen, dass<br />
das Instrument der Freigabe in seinen wesentlichen Zügen ins neue, seit dem 31.12.2018 geltende Strahlenschutzrecht<br />
übernommen wurde. Dennoch gibt es durchaus Änderungen, deren wichtigste hier kurz dargestellt werden sollen.<br />
Zuerst etwas Formales: während die Freigabe in der alten<br />
Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) in § 29 geregelt war,<br />
findet sie sich jetzt in der neuen Verordnung in den<br />
§§ 31-42. Der erste Eindruck, die Regelung sei um ein<br />
Mehrfaches aufgebläht worden, täuscht, denn der alte § 29<br />
war ja sehr umfangreich. Er wurde nunmehr in seine<br />
Bestandteile zerlegt, diese wurden teils neu geordnet, in<br />
Einzelheiten auch durchaus geändert, um neue Passagen<br />
ergänzt und dann als gesonderte Paragraphen in die neue<br />
Verordnung übernommen. Das ist insgesamt freilich etwas<br />
länger, aber jedenfalls besser lesbar und zitierbar als früher.<br />
Der Dualismus der uneingeschränkten und der zweckgerichteten<br />
Freigabe ist im Grundsatz beibehalten. Die<br />
früher “zweckgerichtete” Freigabe heisst jetzt aber “spezifische”<br />
Freigabe und ist systematisch etwas breiter angelegt.<br />
Sie umfasst nämlich nicht mehr nur Stoffe, die einem<br />
bestimmten Entsorgungsweg (Deponierung, Verbrennung,<br />
Abriss, Einschmelzen) zugeführt werden (siehe früher § 29<br />
Abs. 2 S. 2 Nr. 2 StrlSchV a.F.), sondern auch Stoffe, deren<br />
Weiterverwendung oder Entsorgung aufgrund ihrer materiellen<br />
Eigenschaften eingeschränkt ist (siehe jetzt § 32<br />
Abs. 3 Nr. 1 StrlSchV n.F.). Konkret heisst dies, dass etwa<br />
Bauschutt (ab 1000 t), Bodenflächen und Gebäude zur<br />
Wieder- und Weiterverwendung in diese Kategorie “hinübergewandert”<br />
sind. Da die nuklidspezifischen Freigabewerte<br />
gleichgeblieben sind, bleibt abzuwarten, ob dies in<br />
der Praxis zu wesentlichen Änderungen führen wird.<br />
Das bringt uns zu den Grenzwerten für die Freigabe.<br />
Hier gibt es eine wichtige Änderung, die auf der Umsetzung<br />
der Euratom-Grundnorm 2013/59 beruht: die<br />
Werte für die uneingeschränkte Freigabe und die (massenspezifischen)<br />
Freigrenzen in Bq/g sind nunmehr identisch<br />
und sind deshalb in der Tabelle 1 der Anlage 4 zur neuen<br />
StrlSchV (der Nachfolgerin der Anlage III zur alten<br />
StrlSchV) in einer einzigen gemeinsamen Spalte, der<br />
Spalte 3, enthalten. Für die meisten Werte gab es Vorgaben<br />
durch die Euratom-Grundnorm. Dadurch haben sich die<br />
Freigabewerte für einzelne Nuklide zum Teil geändert;<br />
sie wurden teils angehoben, teils abgesenkt. Wie bereits<br />
im ersten Teil dieses Aufsatzes im Februarheft der <strong>atw</strong><br />
erläutert, gelten die neuen Werte ab 01.01.2021, sofern sie<br />
nicht schon früher durch eine Änderung der jeweiligen<br />
Freigabebescheide eingeführt werden. Die Werte für die<br />
spezifische Freigabe sind dagegen gleichgeblieben.<br />
Auch für das Verfahren der Freigabe sind interessante<br />
Änderungen zu vermerken. An der Grundstruktur des Verfahrens<br />
hat sich freilich nichts geändert: Die Freigabe ist,<br />
juristisch gesehen, ein Verwaltungsakt, der sog. “Freigabebescheid”<br />
(jetzt in § 33 Abs. 2 StrlSchV n.F. ausdrücklich so<br />
bezeichnet), der in allgemeiner, nicht auf eine konkrete<br />
Reststoffcharge bezogener Form die Bedingungen für die<br />
Entlassung von Stoffen aus dem Atom- und Strahlenschutzrecht<br />
festschreibt. Die tatsächliche Entlassung,<br />
bezogen auf konkrete Reststoffchargen, tritt dann ein,<br />
wenn der Strahlenschutzverantwortliche oder, nach entsprechender<br />
Delegierung, der Strahlenschutzbeauftragte<br />
nach dem Freimessungsvorgang die Übereinstimmung mit<br />
den im Freigabebescheid festgelegten An<strong>for</strong>derungen<br />
feststellt. In diesem Moment verlieren die Reststoffe den<br />
Charakter als radioaktive Stoffe und unterfallen, sofern –<br />
was in der Regel der Fall ist – ihre Entsorgung beschlossen<br />
ist, dem Kreislaufwirtschaftsgesetz.<br />
Bereits in der Vergangenheit haben sich einige Behörden<br />
über die ohnehin immer gegebene atomrecht liche Aufsicht<br />
hinaus in unterschiedlichem Ausmaß eine Mitwirkung an<br />
dem eigentlichen Entlassungsakt vor behalten. Diese –<br />
rechtmäßige – Praxis ist jetzt in § 33 Abs. 3 StrlSchV n.F.<br />
ausdrücklich aufgegriffen worden. Hiernach kann die<br />
Behörde die Freigabe unter der aufschiebenden Bedingung<br />
erteilen, dass sie die Feststellung des Strahlenschutzverantwortlichen<br />
bestätigt. Das bedeutet, dass eine Reststoffcharge<br />
tatsächlich erst dann aus dem Atom- und<br />
Strahlenschutzrecht entlassen wird, wenn die Behörde die<br />
Bestätigung, bezogen auf diese konkrete Charge, erteilt.<br />
Eine solche Bedingung steht jedoch im Ermessen der<br />
Behörde und es ist auch weiterhin möglich, dass die Entlassung<br />
ohne weiteres mit der Feststellung durch den<br />
Strahlenschutzverantwortlichen erfolgt. Das bleibt der<br />
“Normalfall” oder “Grundfall”, solange die Behörde nicht<br />
ausdrücklich etwas anderes bestimmt hat.<br />
Interessant ist auch § 33 Abs. 4 S. 2 StrlSchV n.F., der<br />
der Behörde u.a. die Möglichkeit einräumt, den Freigabebescheid<br />
mit einem Widerrufsvorbehalt zu versehen.<br />
Diese Regelung ist auf Initiative der Länder getroffen<br />
worden. Gedacht ist sie vor allem für denkbare Fälle der<br />
spezifischen Freigabe, in denen der eigentlich vorgesehene<br />
Entsorgungsweg (z. B. Verbringen auf eine bestimmte<br />
Deponie) vereitelt wird; in solchen Fällen kann die<br />
Behörde, sofern sie sich dies vorbehalten hat, die Freigabe<br />
widerrufen und die entsprechenden Reststoffe damit<br />
wieder in den Status radioaktiver Stoffe “zurück versetzen”.<br />
Damit unterfallen sie wieder der atomrechtlichen Aufsicht.<br />
Juristisch ist diese “Zurückverwandlung” höchst<br />
spannend; ob sie in der Praxis große Bedeutung erlangen<br />
wird, bleibt abzuwarten. Nach der amtlichen Begründung<br />
erlischt die Widerrufsmöglichkeit jedenfalls dann, wenn<br />
der “notwendige Endpunkt der Entsorgung”, also etwa der<br />
Einbau in eine Deponie, erreicht ist.<br />
Autor<br />
Rechtsanwalt Dr. Christian Raetzke<br />
CONLAR Consulting on <strong>Nuclear</strong> Law and Regulation<br />
Beethovenstr. 19<br />
04107 Leipzig, Deutschland<br />
Spotlight on <strong>Nuclear</strong> Law<br />
The New Radiation Protection Law (II): The Approval ı Christian Raetzke