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nancy gemeinschaft 1

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30/<br />

Die Gemeinschaft wird in Zukunft die Grenze des Menschlichen wie<br />

des Göttlichen ausmachen. Mit Gott oder den Göttern wurde die<br />

Einswerdung, die Kommunion - als Substanz und Handlung, als Akt<br />

der immanenten Substanz, die mitgeteilt wird, - der Gemeinschaft<br />

endgültig entzogen 4 .<br />

Das christliche, das moderne, humanistische Bewußtsein vom Verlust<br />

der Gemeinschaft könnte vielleicht tatsächlich nichts anderes als<br />

die transzendentale Illusion einer Vernunft sein, die die Grenzen der<br />

ihr möglichen Erfahrung überschreitet, was im Grunde die Erfahrung<br />

der entschwundenen Immanenz wäre. Die Gemeinschaft hat nicht<br />

stattgefunden oder anders gesagt, wenn man wohl annehmen darf,<br />

daß die Menschheit gänzlich andere Formen des sozialen Bandes als<br />

die uns bekannten erlebt hat (oder außerhalb der industrialisierten<br />

Welt noch lebt), dann hat die Gemeinschaft nicht so' stattgefunden,<br />

wie wir sie uns vorstellen, wenn wir sie auf diese unter-schiedlichen<br />

Gesellschaftsformen projizieren. Sie fand weder bei den Guayaki-<br />

Indianern noch in irgendeinem Hütten-Zeitalter à la Rousseau statt,<br />

weder im «Geist eines Volkes» . im hegelschen Sinn noch in den<br />

Agapen der Christen. Die Gesellschaft und mit ihr Staat, Industrie<br />

und Kapital tauchten nicht auf, um eine bereits bestehende Gemeinschaft<br />

aufzulösen. Sicherlich wäre es genauer und würde mit jenem<br />

Hin-und-Her der ethnologischen Interpretationen, all diesen Ursprungsphantasien<br />

oder Trugbildern eines verlorenen «Einst» aufräumen;<br />

zu behaupten, daß die Gesellschaft — die «Sozietät», der<br />

trennende Zusammenschluß von Kräften, Bedürfnissen und Zeichen<br />

— an die Stelle von etwas getreten ist, wofür wir weder einen Namen<br />

noch einen Begriff haben; dieses etwas ging aus einer viel weitreichenderen<br />

Kommunikation (aus einer Verbindung zu den Göttern,<br />

dem Kosmos, den Tieren, den Toten, den unbekannten<br />

/31/<br />

Wesen) hervor, als sie im Rahmen des sozialen Bandes möglich wäre,<br />

und beruhte gleichzeitig auf einer noch weitaus radikaleren und<br />

vielfältigeren Gliederung eben dieser Beziehung, was häufig viel gravierendere<br />

Auswirkungen (wie Einsamkeit, Aussonderung, Achtung,<br />

mangelnde Unterstützung) hatte, als wir es von einem Minimum an<br />

Gemeinschaftlichkeit im Rahmen des sozialen Bandes erwarten würden.<br />

Die Gesellschaft ist nicht aus dem Zusammenbruch einer Gemeinschaft<br />

entstanden. Sie entstand beim Verschwinden oder Bewahren<br />

dessen — Stämme oder Reiche —, was vielleicht ebensowenig<br />

mit dem, was wir «Gemeinschaft» nennen, zu tun hat wie mit<br />

dem, was wir als «Gesellschaft» bezeichnen. Die Gemeinschaft ist<br />

also keinesfalls das, was die Gesellschaft zerbrochen oder verloren<br />

hätte, sondern sie ist das, was uns zustößt — als Frage, Erwartung,<br />

Ereignis, Aufforderung —, was uns also von der Gesellschaft ausgehend<br />

zustößt.<br />

4<br />

Vgl. J. L. Nancy, «Des Lieux divins», in Qu'est-ce-que Dieu?, T.E.R .<br />

Mauvezin, 1987.<br />

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