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Werktags - ORF

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männlichen Klienten so aufzufallen, dass dieser den Mut fände, sie zu fragen, wann sie heute<br />

hier Schluss habe und ob sie noch irgendwohin was trinken gehen wolle. In Wirklichkeit ging<br />

es Lise in dieser Nacht gar nicht darum, ihre neue Ehe ad absurdum zu führen, sondern einfach<br />

nur einen Grund zu haben, nicht nach Hause zu gehen und sich dem Unvermeidlichen zu<br />

stellen. Wenn es sein müsste, verbrächte sie die Nacht mit Vergnügen damit, spendierte<br />

Cocktails in verschiedenen Bars und Discos zu trinken und einem überheblichen<br />

Werbeagenturangestellten zuzuhören, wie dieser seine lang entwickelte, natürlich vollkommen<br />

geheim gehaltene Marketingstrategie für die staatliche Eisenbahn präsentierte und gleichzeitig<br />

versuchte, eine pikante Anekdote für seine Kollegen beim Kaffee am Montag zu sichern. Sie<br />

hätte das alles in Kauf genommen, nur um in dieser Nacht den Schlüssel in der Wohnungstür<br />

so spät wie nur möglich umzudrehen. Den Gedanken, tatsächlich die Nacht bei einem<br />

Unbekannten zu verbringen, zog sie eigentlich nicht in Erwägung, dazu war sie nicht der Typ<br />

und würde es nie sein. Ihr erster fester Freund war auch ihr erster fester Liebhaber und ihr<br />

erster Ehemann geworden. Als sie Drago kennen gelernt hatte, war sie gerade erst 18 und<br />

bezüglich Jungen in ihrem Alter eher schüchtern wenn nicht sogar gleichgültig gewesen. Der<br />

Altersunterschied, immerhin 11 Jahre, beziehungsweise sein überaus charmantes und<br />

weltmännisches Auftreten, hatten sie buchstäblich weggefegt, als sie zum ersten Mal mit ihm<br />

sprach. Er war für sie die Erfüllung eines jeden kleinbürgerlichen Mädchentraumes, der starke,<br />

erfahrene Mann, der sie mit ins gelobte Land nähme, wo sie studieren und er viel Geld verdienen<br />

würde. Sie heirateten nicht einmal acht Monate später, und in dieser Zeit manifestierte sich<br />

in Lises Unterbewusstsein das Postulat, dass Sex mit diesem Mann die wunderschönste Sache<br />

der Welt sei, und dass die Ehe nur mehr die offizielle Besiegelung für das sei, was sie ohnehin<br />

schon mit Sicherheit wusste, nämlich, dass sie ihr Leben lang keinen anderen Mann für<br />

irgendetwas brauche. Jetzt hatte sie Angst, ein kleines, naives Mädchen zu sein, verglichen<br />

mit ihren Altersgenossinnen. Oft ertappte sie sich bei diesem Gedanken und wurde wütend<br />

über sich selbst. Gerade das Wissen über die Unbegründbarkeit des Gefühls ließ es umso<br />

stärker werden. Wieso fühlte sie sich unerfahren, verglichen mit anderen Frauen ihres Alters?<br />

Schließlich hatte sie ihre Heimat noch als Teenager verlassen, eine fremde Sprache fließend<br />

gelernt, sich in einer fremden Umgebung zurechtgefunden, ein Studium angefangen und<br />

gearbeitet. Und zu guter Letzt verfügte sie über eine Erfahrung, die die meisten der Frauen in<br />

den modernen Industrieländern in ihrem Alter noch nicht hatten. Sie war Mutter geworden.<br />

Milan wurde einen Monat nach dem Jahrestag ihrer Emigration geboren. Obwohl die Verwandten<br />

am Telefon klagten, dass sie die gesamte Zeit der Schwangerschaft sowie natürlich die Geburt<br />

und die Phase des Kleinkindes verpassten, waren Drago und Lise froh, dass ihr Erstgeborener<br />

hier zur Welt gekommen war, in der Fremde. Sie sahen es als eine Art Zeichen, dass ihre<br />

Zukunft hier in sicheren Händen lag und sie dem fremden Land gewachsen waren. Und die<br />

Dinge sahen damals tatsächlich gut aus. Drago hatte dank seiner Ausbildung und Reputation<br />

gleich als Trainer in einem Fitnessclub anfangen können und war inzwischen der Fitnessbetreuer<br />

mehrerer Privatkunden, darunter auch viel versprechende junge Talente des Nachwuchssports.<br />

Die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis hatte er als Besitzer einer Doppelstaatsbürgerschaft<br />

automatisch, und somit war auch für seine junge Frau der legale Aufenthalt kein Problem. Zwar<br />

musste Lise ihr Studium durch Milan 1 1/2 Jahre völlig unterbrechen, aber die tief aus dem<br />

Inneren kommende Freude über ihr Familienglück ließ sie fest daran glauben, dass sie noch<br />

alles erreichen könne. Außerdem hatte sie fest vor, ihr Studium abzuschließen, komme was<br />

wolle. Sie war es nicht nur sich selber schuldig sondern auch ihren Verwandten, die bei jedem<br />

Telefonat am anderen Ende der Leitung sich fast darum balgten, wer mit ihr sprechen dürfe,<br />

und in deren Stimmen solcher Stolz mitschwang, dass Lise ein paar Mal schon wässrige Augen<br />

beim Telefonieren bekommen hatte. Trotz der anfänglichen Skepsis, vor allem betreffend der<br />

Studienrichtung, hatten sie alle, wo sie nur konnten, unterstützt. Anfänglich haderten sie<br />

Lises Freitag<br />

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